Von Neele Charlotte Kinkel

Schwerpunkt


Eine meiner Kindheitsängste hatte mit Krieg und Apokalypse zu tun. Ich hatte Angst, dass während meines Lebens nochmal ein Krieg ausbricht. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit meinem Papa in meiner Kindheit erinnern. Er meinte damals, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir noch „etwas mitmachen”. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, gab es nie für lange Zeit Frieden und Ruhe. Irgendwie konnte ich die Angst trotzdem immer aus meinem Kopf verbannen und mir zureden, dass wir vielleicht doch Glück haben und einfach in eine friedlichere Periode auf der Erde geboren wurden. Oder, dass erst Jahrhunderte nach mir wieder Krieg ausbricht.

Auf eine gewisse Art und Weise ist unser jetziger Krisenzustand vergleichbar mit Krieg. Wir durften für eine lange Zeit unsere Häuser und Wohnungen nur für das Allernötigste verlassen, nicht in den Urlaub fahren und alles, was Spaß macht, ist mit Risiko verbunden. Die Angst vor dem Tod oder einer tödlichen Krankheit ist plötzlich viel realer und näher; sie steht im Mittelpunkt unserer Gesellschaft und Gesprächsthemen. Und trotzdem dreht sich die Welt weiter. Der Sommer steht vor der Tür und langsam treffen auch die strengsten Maßnahmenvertreter*innen wieder ihre Freund*innen. Alles wird wieder „normaler” (Was ist eigentlich normal?), aber dabei ist insbesondere eins auf der Strecke geblieben: die mentale Gesundheit.

Wenn ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umschaue, kenne ich mehr Menschen denn je, die mit einer Therapie angefangen haben, including me. Auch zahlreiche Statistiken bestätigen, dass Depressionen und Angststörungen während der Pandemie zugenommen haben. Natürlich kann sich momentan vieles aussichtslos anfühlen. Das unbeschwerte Leben, in dem wir auf Konzerten die Nächte mit fremden Menschen durchgetanzt haben, scheint vorbei zu sein. Wo sollen wir all die Energie rauslassen, die sich anstaut, wenn wir den ganzen Tag auf den Bildschirm starren? Und dann droht auch noch unsere heile Welt, wie wir sie kennen, durch den Klimawandel unterzugehen. Die starke Zunahme von Depressionen, Suiziden und häuslicher Gewalt überrascht mich ehrlich gesagt kaum.

Ein Satz, der mir in den letzten Monaten im Internet mehrmals über den Weg gelaufen und hängen geblieben ist, lautet: „If you can’t go outside, go inside”. Zusammen mit dem Bild einer meditierenden Person. Ich glaube, dass es genau diese Einstellung ist, die mich durch diesen Normalzustand der Krise bringt. Es ist Zeit, nach drinnen zu schauen und zu observieren, was sich in uns bewegt. Denn dort gibt es so viel zu entdecken. Wir sollten den Krisenzustand als Zeit der Stille und Ruhe nutzen, um uns selbst besser kennenzulernen. Die Ruhe bewahren in einer Zeit, in der alles droht zusammenzubrechen. Denn Tiefen und Höhen sind völlig normale Phasen in jedem natürlichen Zyklus, wie bei Ebbe und Flut, Vollmond und Neumond. Warum sollte es bei uns Menschen, als Teil der Natur, anders sein? Ich denke, dass es ohne Tiefen keine Höhen geben kann, beziehungsweise dass wir die Höhen ohne Tiefen nicht wertschätzen könnten. Akzeptanz von meinen Tiefen, vielleicht sogar Neugierde nach den Ursachen, hilft mir meistens sehr weiter, wenn ich wieder mal an einem Tiefpunkt angekommen bin. Es ist okay, sich manchmal so richtig schlecht zu fühlen. Lasst es zu, lasst es raus.

Glücklicherweise haben sich schon viele menschliche Zivilisationen vor uns damit beschäftigt, menschliches Leiden zu vermindern. Wir sind nicht die erste Generation, die kollektiv durch eine – psychologisch gesehen – schwierige Phase geht. Wir sehnen uns nach Sicherheit und Struktur und suchen vor allem in unserer Außenwelt danach. Laut buddhistischer Lehre ist Meditation und Mindfulness, die Wendung nach innen statt nach außen, ein wichtiger Teil des Heilprozesses. Meiner Meinung nach sind es die kleinen Dinge im Leben, die uns Momente der Freude und Klarheit in einer turbulenten Zeit schaffen. Ein kleines Ritual am Morgen und/oder Abend, wie eine 10-minütige Meditation oder Yogaübung, ist die beste Medizin für mehr Verbundenheit mit den Rhythmen des Lebens, die uns auch ab und zu durch einen Tiefpunkt schicken, ob es uns nun gefällt oder nicht. Und am Ende sollten wir uns doch auf den Boden der Tatsachen zurückholen: Auch wenn es in manchen Momenten so scheint, als ob gerade alles zusammenbricht, können wir uns glücklich schätzen, dass wir nicht wirklich im Krieg leben. Wenn wir tief durchatmen und in uns horchen, können wir feststellen, dass das Leben doch eigentlich immer noch friedlich verläuft.

freiraum #70