Wie sehen wir „Hartz IV“-Empfänger? Von Alisha Morell
Schwerpunkt
Spätestens die Ausstrahlung der Fernsehsendung „Hartz und herzlich“, die das alltägliche Leben von Menschen in sozialen Brennpunkten in Deutschland zeigt, hat in den Köpfen der Menschen gewisse Vorstellungen über die Person des Sozialleistungsempfängers erzeugt, bestätigt oder verfestigt. Die Serie greift auf Stereotype und Klischees zu, die vor allem die Einschaltquoten begünstigen sollen. So ergibt sich das negative Bild eines schlecht ausgebildeten, arbeitslosen „Hartz IV“-Empfängers, der nichts Sinnvolles für die Gesellschaft tut und auch nicht arbeiten will.
Wenn die Sendung ihr Gutes hat, dann, dass die Zuschauer den betroffenen Personenkreis wahrnehmen und ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, das Gesehene zu hinterfragen. Denn nicht alle – nicht einmal die meisten – Personen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II („Hartz IV“) beziehen, sind auch arbeitslos. Arbeitslosigkeit ist keine Voraussetzung für den Leistungsbezug, sondern die Hilfebedürftigkeit einer Person, die dann besteht, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht (ausreichend) aus eigenen Mitteln bestreiten kann. So kommt es, dass mit 36 Prozent weniger als die Hälfte aller Leistungsempfänger arbeitslos ist. Ein Großteil der Leistungsempfänger geht entweder einer Beschäftigung nach und bezieht Leistungen nur, um den eigenen Bedarf decken zu können (sogenannte Aufstocker), nimmt an Weiterbildungs- oder beruflichen Eingliederungsmaßnahmen teil, befindet sich in Schule, Ausbildung, Studium oder pflegt Angehörige und hat aus diesem Grund keine Arbeit. „Hartz IV“-Bezug und Arbeitslosigkeit sollten somit nicht als Synonyme verwendet werden.
Einerseits macht die Fernsehsendung die bedürftigen Lebensumstände der Protagonisten offenkundig. Andererseits und paradoxerweise scheint sich hartnäckig die Vorstellung zu halten, die staatlichen Sozialleistungen seien zu hoch, ermöglichten sie doch ein Leben ohne Arbeit auf Kosten der Steuerzahler. Die Grundlage für die Gewährung und Berechnung von „Hartz IV“ und Sozialhilfe bildet das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, welches das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 aus den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes entwickelt hat. Wie genau „Hartz IV“ und Sozialhilfe als soziale Auffangnetze für Menschen in Notlagen ausgestaltet werden, obliegt zwar dem Gesetzgeber. Das Grundrecht selbst und damit die finanzielle Existenzsicherung ist aber unverfügbar und muss gewährleistet werden. Die Berechnung des Existenzminimums erfolgt nach dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz, wonach seit 2011 die vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Sonderauswertungen der fünfjährlichen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe maßgebend sind. Das Bundesverfassungsgericht hat das Berechnungsverfahren seitdem hinsichtlich Transparenz, Schlüssigkeit und Lebensnähe nicht beanstandet.
Dem Argument, die staatlichen Sozialleistungen seien zu hoch, lassen sich ferner Zahlen entgegenbringen, die bei näherer Betrachtung wohl eher kein Leben in Luxus versprechen. Der Regelsatz für eine erwachsene, alleinstehende Person liegt, neben der Übernahme der Kosten für die Unterkunft und Heizung, aktuell bei 432 Euro im Monat. Innerhalb von 30 Tagen stehen also täglich 14,40 Euro zur Verfügung. Von dieser Summe sind Lebensmittel, Hygieneartikel, Haushaltsgeräte und -gegenstände, kleinere Reparaturen, Kleidung und Schuhe, aber auch Strom, Internet, Telefon und Handy, Verkehrsmittel sowie Investitionen in Bildung (beispielsweise Bücher und Kurse) und Aktivitäten zur sozialen und kulturellen Teilhabe wie Hobbys, Restaurant-, Kino- und Museumsbesuche zu bezahlen. Kinder erhalten ebenfalls pauschalisiert, aber gestaffelt im Alter von 0 bis 5 Jahren 250 Euro, im Alter von 6 bis 14 Jahren 308 Euro und im Alter von 14 bis 18 Jahren spricht ihnen das Gesetz 328 Euro zu. Das Kindergeld in Höhe von 204 Euro monatlich für das erste Kind wird auf den Regelbedarf der Eltern angerechnet, also der Regelbedarf um das Kindergeld gekürzt. Es steht der Familie somit nicht zur Verfügung.
Während Erwachsenen eine gewisse Verantwortung für ihre Lebenssituation nicht abzusprechen ist, haben Kinder im Sozialleistungsbezug naturgemäß weniger Einfluss auf ihre Bedarfsdeckung und tragen hier auch keinerlei Verantwortung. Der Regelsatz kann insbesondere individuelle Bedarfe des Kindes nicht berücksichtigen, wie zum Beispiel den Wunsch nach einem eigenen Zimmer, hochwertigen Lebensmitteln oder kostenintensiveren Hobbys und Spielsachen. Das bedeutet, dass das Existenzminimum ¬– im Vergleich zu einer „durchschnittlichen“ Kindheit in Deutschland – keine „normale“ Kindheit ermöglichen kann.
Für das Klischee in diesem Zusammenhang, dass Eltern von Kindern im Sozialleistungsbezug das Geld ihrer Kinder eher für Alkohol, Zigaretten oder einen neuen Fernseher ausgeben würden als für ihre Kinder, gibt es keine empirischen Belege. Eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2018 hat stattdessen das Gegenteil ergeben: Die meisten Eltern geben das Geld ihrer Kinder und oft auch ihr eigenes Geld im Sinne der Kinder aus.
Sich den eigenen Vorurteilen bewusst zu sein und sie zu reflektieren bedeutet hier: Selbst, wenn alle genannten Vorurteile über Sozialleistungsempfänger in 99 Prozent aller Fälle wahr wären, würden sie noch nichts über den einen Menschen aussagen, den wir gerade vor uns haben.
Letztlich sollte kein Vorurteil und erst recht keine Fernsehsendung über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Sozialleistungsempfänger in Deutschland in Armut leben und dass Armut immer gesellschaftlichen Handlungsdruck erzeugen muss.
freiraum #67