Politischer Ungehorsam und der Gerechtigkeitssinn. Von Simeon Imhoff
Forschung
Politischen Ungehorsam begreifen
Wir können in mannigfaltiger Absicht, zu vielerlei Zwecken und auf unterschiedlichste Weise politisch ungehorsam sein: Wir können uns in Baumhäusern verschanzen, um zu verhindern, dass ein Wald gerodet wird, oder wir testen, indem wir zur Zeit der Rassentrennung in den USA als "Schwarze" einen Wartebereich betreten, der für "Weiße" reserviert ist, ob unser Recht öffentlich anerkannt wird, im zwischenbundesstaatlichen Reiseverkehr nicht durch lokale Rassentrennungsgesetze drangsaliert zu werden. Das sind nur zwei Beispiele für politischen Ungehorsam, aber es stellt sich unmittelbar die Frage, wie wir ihn genauer begrifflich erfassen können oder sollten.
In meinem Dissertationsprojekt vertrete ich entgegen der verbreiteten Auffassung in der wissenschaftlichen Debatte die These, dass wir für adäquate begriffliche Konstruktionen insbesondere auch normative Theorien und strategische Erwägungen einfließen lassen sollten. Eine Anmerkung: Ich glaube nicht, dass es eine beste Art und Weise gibt, politischen Ungehorsam begrifflich zu erfassen. Abhängig von Fragestellung und Erkenntnisinteresse können gänzlich unterschiedliche Konzeptionen brauchbar sein. Was tun mit dieser begrifflichen Freiheit?
Gerechtigkeit und Gerechtigkeitssinn
Ich entwickle in meinem Dissertationsprojekt eine Perspektive auf politischen Ungehorsam, die ihren Ausgangspunkt von der Idee des amerikanischen politischen Philosophen John Rawls (1921–2002) nimmt, ziviler Ungehorsam sei ein Appell an den Gerechtigkeitssinn der politischen Öffentlichkeit. Die politische Öffentlichkeit konstituiert sich aus den verschiedenen institutionellen Positionen (Amts- und Mandatsträger, Verfassungsgericht und Wählerinnen), die einen direkten Einfluss auf die Staatsgewalt ausüben. Mit dem Gerechtigkeitssinn bezeichnet Rawls ein wichtiges moralisches Vermögen von Bürgerinnen, nämlich ihre Fähigkeit, begründete Gerechtigkeitsurteile zu fällen und eine entsprechende Handlungsmotivation auszubilden. Der Gerechtigkeitssinn ermöglicht es Bürgerinnen, die Regeln gesellschaftlicher Kooperation, die als System die Grundstruktur einer Gesellschaft bilden, aufrichtig zu befolgen.
Mit dieser Überlegung verbunden ist Rawls' These, wonach Gerechtigkeit die erste Tugend der Grundstruktur einer Gesellschaft ist. Sie besteht zum Beispiel aus der politischen Verfassung, aber auch aus der Wirtschaftsordnung mit ihren Eigentumsrechten und anderen sozialen Institutionen wie der Familie. Die Grundstruktur ist der unhintergehbare Hintergrund unseres alltäglichen Handelns. Sie bestimmt, welche Ziele wir mit welchen Mitteln erreichen können und als Sozialisationsinstanz prägt sie überdies entscheidend unsere Persönlichkeit.
Für Rawls ist die Grundstruktur einer Gesellschaft dann gerecht, wenn sie ein System der sozialen Kooperation zwischen gleichen und freien Bürgerinnen zu deren wechselseitigem Vorteil konstituiert. Wenn eine solche Grundstruktur Ungerechtigkeiten aufweist, die sich im ordentlichen politischen Prozess nicht beseitigen lassen, aber die Annahme plausibel ist, dass in der politischen Öffentlichkeit ein wirksamer Gerechtigkeitssinn vorhanden ist, dann sind wir Rawls zufolge berechtigt, durch politischen Ungehorsam an diesen Gerechtigkeitssinn zu appellieren.
Dabei muss unser Ungehorsam Formen annehmen – zum Beispiel gewaltfrei sein –, die mit der Idee des Appells kompatibel sind. In anderen Worten: Wir müssen uns "ordentlich danebenbenehmen". Der attraktive Gedanke hinter diesen Überlegungen ist, dass wir für die Realisierung von Gerechtigkeit letztlich auf ihre aufrichtige Anerkennung durch unsere "Mitbürgerinnen" angewiesen sind. Gerechtigkeit lässt sich nicht herbeizwingen.
Die moralische Bedeutsamkeit von Situationen
Für Rawls' Theorie ergibt sich aber ein Problem: Nehmen wir die Idee des Appells an den Gerechtigkeitssinn zu wörtlich, dann können wir nicht mehr erklären, welche entscheidende Rolle das Moment des Ungehorsams in unserem Tun eigentlich spielt. Reicht nicht eine ordentliche Demonstration aus, die ja zu den zentralen Rechten liberaler Demokratien gehört, um der politischen Öffentlichkeit "ins Gewissen zu reden"?
Bei Rawls finden sich nur Andeutungen zu einer Lösung, die ich im Rahmen meiner Arbeit zu einer Theorie über die politisch-moralische Bedeutsamkeit von Situationen des Ungehorsams erweitere. Die Grundidee ist, dass Ungehorsam eine eindeutige Reaktion der Öffentlichkeit provoziert, insbesondere dann, wenn durch den Ungehorsam Normen verletzt werden, die durch (mehr oder weniger) zwingende Sanktionen gestützt werden, zum Beispiel weil der Ungehorsam rechts- oder ordnungswidrig ist.
Wir können hier zwei Situationen unterscheiden: Einmal kann sich der Ungehorsam als direkter Ungehorsam gegen eine in sich ungerechte Norm wenden, ein Rassentrennungsgesetz etwa. Er kann aber auch als indirekter Ungehorsam stellvertretend eine Norm verletzen, die als solche nicht unmittelbar ungerecht ist, etwa eine Sitzblockade auf der Autobahn, um für einen Ausbau des Bahnverkehrs zu protestieren.
Insbesondere im ersten Fall versetzt er die Öffentlichkeit in ein moralisches Dilemma: Einer Sanktion stünde das Urteil des eigenen Gerechtigkeitssinns entgegen, eine Duldung unterminiert die öffentliche Geltung der subvertierten Norm. Nachhaltig durch politischen Ungehorsam herausgefordert wird eine Gesellschaft auf diese Weise im Lichte ihrer eigenen Überzeugungen zu Reformen genötigt.
Schlechte Aussichten
Die oben skizzierte Form politischen Ungehorsams sieht sich allerdings mit größeren Schwierigkeiten konfrontiert. Das ist nicht zwingend eine Kritik an ihr, insbesondere dann nicht, wenn wir die Grundgedanken teilen, auf denen sie aufgebaut ist. Das betrifft einmal die behaupteten Ungerechtigkeiten selbst, die heute Gegenstand politischen Ungehorsams sind. Strukturelle Ungerechtigkeiten – Herausforderungen wie der Klimawandel, internationale Gerechtigkeit oder strukturelle Diskriminierung – sind selten das Produkt einzelner ungerechter sozialer Normen, vielmehr sind sie das Resultat größerer Teile der Grundstruktur oder ihrer Unterentwicklung auf internationaler Ebene. Anders als beim Bruch eines Rassentrennungsgesetzes ist es hier ungleich schwerer, durch politischen Ungehorsam eine moralisch eindeutige Situation herzustellen, gerade dann, wenn nur ein indirekter Ungehorsam möglich ist.
Meist erlauben diese Probleme zudem mehrere Lösungen, deren Findung dem ordentlichen politischen Prozess zusteht und nicht den Akteurinnen politischen Ungehorsams. Schließlich existiert in globalen Fällen von Ungerechtigkeiten meist überhaupt keine politische Öffentlichkeit, an deren Gerechtigkeitssinn appelliert werden könnte, unsere Empörung etwa verhindert keine Kinderarbeit. Selbst ein über Jahrzehnte entwickeltes Projekt wie die Europäische Union versagt darin, ihre eigenen Grundwerte im Inneren und an ihren Grenzen wirksam durchzusetzen und ob sie über eine echte politische Öffentlichkeit verfügt, ist durchaus fraglich.
Dies alles zugestanden, ist dennoch fraglich, ob militantere Formen politischen Ungehorsams die Probleme besser lösen könnten. Die aufrichtige Anerkennung von alten und neuen Kooperationspartnerinnen werden wir vermutlich mit Gewalt und Zwang nicht erreichen.
- Name: Simeon Imhoff
- Fachbereich: Institut für Philosophie
- Universität: Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Der Autor ist Altstipendiat und war zuvor seit August 2016 in der Promotionsförderung der FNF.
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