Wie entsteht Macht, wie ihr scheinbares Antonym? Wer beansprucht sie für sich und wem werden sie zugeschrieben? Von Svenja Schnepel
Schwerpunkt
Welch mächtig klingende, einen vor Ehrfurcht beinahe erstarren lassende Titelbegriffe – doch was verbirgt sich eigentlich hinter ihnen? Wie entsteht Macht, wie ihr scheinbares Antonym? Wer beansprucht sie für sich und wem werden sie zugeschrieben? Treten sie als statisch-stille Entitäten auf oder erheben sie lautstark-kämpferisch ihre Stimme?
Die Beschäftigung mit diesen tiefgreifenden Fragen, eine definitorische Fixierung des Machtbegriffs anvisierend, stellt nicht zuletzt aufgrund seiner "soziologisch amorphen Struktur" (Max Weber) über Generationen und Fachdisziplinen hinweg ein fortwährend kompliziertes Unterfangen dar. Relativer Konsens wurde in dem Zugeständnis einer Omnipräsenz von Macht innerhalb menschlicher Gemeinschaften erzielt. Doch bereits die Suche nach kausativen Motivlagen und Entstehungskonstituenten fächert eine beeindruckende Spannweite an machttheoretischer Pluralität auf. Etymologisch ist der deutsche Begriff der Macht auf das altgotische Verb "magan" (machen, können) zurückzuführen, welches den dynamisch-aktiven Handlungscharakter von Macht zum Vorschein kehrt. Macht hat weniger mit dem Besitz eines einzelnen zu tun als vielmehr mit sozialen Akten zwischen den Menschen.
Eine der meistzitierten Definitionen stammt vom vehementen Verfechter klarer, eindeutiger Begriffe höchstselbst, dem Soziologen Max Weber: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Der soziale Charakter dieser spezifischen Form des Handelns verweist auf die Bedeutung der Inszenierung von Macht. Es geht um die glaubhafte Sichtbarmachung der Möglichkeit zur Durchsetzung des eigenen Willens, auch unabhängig von der real existierenden Fähigkeit. Mit Thomas Hobbes gesprochen ist bereits im Ruf von Macht zu stehen Macht. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spitzt sie sogar auf ein "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium" zu.
Seit der Moderne ist eine zunehmende Koppelung des Machtbegriffes an eine normativ aufgeladene Funktionalität zu beobachten, um Beziehungskonstellationen zwischen Individuen sowie innerhalb von gesellschaftlichen Kollektiv-Systemen und Institutionen aufzuzeigen und zu (de-)legitimieren. Eine oftmals pejorative Zuschreibung nimmt die reine Unterdrückung als Ausprägungsvariante von Macht in den Blick und denkt sie nicht selten in enger Verbindung mit Gewalt. Dass diese Korrelation allerdings keineswegs zwingend besteht, haben sowohl Hannah Arendt als auch Niklas Luhmann eindrücklich dargelegt: Sie exkludieren Gewalt sogar dezidiert von Machtphänomenen und sehen in ihr gerade den Ausdruck von gescheiterter Macht und somit von Machtlosigkeit. In der chaotischen Situation infolge eines Machtverfalls wächst in der Regel der Drang nach Kontrolle und Wirkmächtigkeit, was aus dem Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht heraus unter Umständen eine erhöhte Gewaltbereitschaft hervorbringen kann; denken wir beispielsweise an die sprunghafte Zunahme häuslicher Gewaltdelikte in Pandemie-Zeiten.
Trotz der häufig moralisierten Negativbewertung und teilweise angstvollen Verteufelung der Macht ist gerade in Phasen des ungefragten, zuweilen plötzlichen Machtentzugs beziehungsweise -verfalls ein lautstarker Ruf nach einer machtvollen, starken Führung zu vernehmen. Hier betritt ein weiterer maßgeblicher Begriff die Bühne: Menschen begeben sich freiwillig in die Rolle des Untergebenen, weil sie im Machthaber einen Garanten von Sicherheit suchen. Für Hobbes stellt die Befriedigung dieses Sicherheitsbedürfnisses nicht nur die Erklärung für die zwanglose Unterwerfung dar, sondern ebenso die ausschlaggebende Legitimationsgrundlage von Macht. Nun befinden wir uns bereits mitten im Feld der interdependenten Begriffskonnotation: Die intuitiv hierarchisch verstandene Ausprägung von Machtkonstellationen erhält eine Verschiebung hin zur Fokussierung des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Machtausübenden und dem sich Unterwerfenden. Während letzterer seinen Wunsch nach Entlastung, Sicherheit und Ordnung erfüllt sehen möchte, profitiert ersterer von der Befriedigung seines Machtbedürfnisses. Das symbiotische Verhältnis von Machttrieb und Sicherheitstrieb betont die pragmatisch entlastende Wirkung von Macht: Anstatt Situationen immer wieder aufs Neue mühselig aushandeln zu müssen, kann Macht Abhilfe in Form von Komplexitätsreduktion und der Beschleunigung von Entscheidensprozessen schaffen. In diesem Machtverständnis wird der Intentionalität beider Parteien eine Macht konstituierende Rolle zugeschrieben und mündet mit Georg Simmel gesprochen in eine Situation beiderseitiger Bedürfnisbefriedigung.
Als kleines Beispiel sei die klar definierte Struktur eines symphonischen Orchesterapparates gewählt. Ohne die Durchsetzungskraft des Dirigenten würde der Spielversuch gegebenenfalls in einem Klangchaos gipfeln. Ohne das klangerzeugende Orchester würde der Dirigent allerdings trotz seiner noch so akrobatisch ausfallenden Bewegungen nichts als Stille produzieren. Beide Varianten stellen nicht das intendierte, wenngleich sich noch im dynamischen Aushandlungsprozess befindende Ziel des musikalischen Wohlklangs dar, weshalb sich alle Musiker in eine funktionale, kontextgebundene Über- und Unterordnung begeben. Auf die sich bewusst geeinigten Rahmenbedingungen der ausgehandelten Machtkonstellation können als Voraussetzung für die gemeinsame Kreation offener und immer wieder unterschiedlich ausfallender Klangkonzepte angesehen werden. Somit ist von einer komplexeren Machtstruktur als dem reinen Erdulden des Aufgezwungenen auszugehen. Eine aktive Entscheidung beider Seiten ist die konstituierende Voraussetzung von Macht.
An dieser Stelle erhält die Grundbedingung des positiv besetzten Machtbegriffs ihren Auftritt: die Prämisse der Freiheit. Die Entscheidung zum Eintritt in das beidseitige Abhängigkeitsverhältnis der Macht hat freiwillig zu erfolgen. Die Erzeugung eines Gefühls der Freiheit aller an der Machtkonstellation Beteiligten vermag in der Folge eine Produktivität zu erzeugen, welche materielle Innovationen, tiefe Lust, neues Wissen, spannende Diskurse oder streitbare Kunst hervorbringen kann. Friedrich Nietzsche bezeichnet den "Willen zur Macht" in diesem Zusammenhang als Grundtrieb des Menschen. Die damit einhergehende Verinnerlichung der Macht in Bezug auf die geistige Freiheit der Willensentscheidung marginalisiert die Existenz der Ohnmacht, auf die im weiteren Verlauf genauer einzugehen ist. Macht wird zu einer selbstbestimmten inneren Haltungsfrage: Selbst in Extremsituationen wie dem absoluten Ausgeliefertsein der Gewaltwillkür eines physisch Überlegenen können geistige Freiräume erhalten oder geschaffen werden. Auch wenn Handlungsoptionen durch Zwang und Beherrschung von Menschen, Staats- oder Naturgewalten in drastischen Ausmaßen wegfallen und man sich in eine machtlos erscheinende Lage versetzt fühlt, bleibt die Chance zumindest im Geiste eine Distanz zu der einem widerfahrenden Ungerechtigkeit aufzubauen und der scheinbaren Macht ihren Zauber durch die Entsagung der eigenen Zustimmung zur Position des sich Unterwerfenden zu nehmen. Grundvoraussetzung für diesen inneren, auf willensstarker Entscheidung beruhenden Widersagungskampf ist allerdings ein Mindestmaß an körperlich kraftvoller Konstitution, wie man u.a. aus Äußerungen von KZ-Inhaftierten oder Gefolterten schlussfolgern kann.
Der bereits angesprochene, von Nietzsche benannte "Machttrieb" des Menschen fußt gerade auf der traumatischen Erfahrung der Ohnmacht: "Die Lust an der Macht erklärt sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht. Ist diese Erfahrung nicht da, so fehlt auch die Lust." (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente) Hieraus resultiert auch der bereits von Thomas Hobbes konzeptualisierte stetige Wunsch nach Potenzierung von Macht zum Zwecke ihres Selbsterhaltes. Der Wille zur Macht setzt jedoch den Willen zu sich selbst voraus – und zwar unter Einbeziehung der individuellen Realisierung des Nichtseins. Die Standhaftigkeit dieser negativen Spannung und die "Selbstbejahung eines Wesens trotz des Nichtseins ist der Ausdruck seiner Seinsmächtigkeit". (Paul Tillich: Philosophie der Macht)
Neben der oben dargelegten Annahme der Nonexistenz von aufoktroyierter Ohnmacht unter der Prämisse bewusster, freiwilliger Entscheidung auch der sich Unterwerfenden kann Ohnmacht bisweilen durchaus explizite Formen annehmen: Zum einen verstehen wir hierunter im medizinischen Bereich eine kurz anhaltende Bewusstlosigkeit mit körperlichem Kontrollverlust. Das psychische Gefühl der Macht- und Wehrlosigkeit stellt sich ein, wenn keine explizite oder implizite Zustimmung zum ausgeführten Akt erfolgte. Oft sind Tempo und Modus der Vorbereitung des Wechsels von Machtverhältnissen ausschlaggebend. Da Wissen als Ressource von Macht anzusehen ist, führt gezielte Desinformation oder die Realisierung fehlender Transparenz zur massiven Handlungsbeschränkung und somit zu ohnmächtigem Verharren beziehungsweise Geschehen-Lassen.
Darüber hinaus kann auch eine bewusste Hingabe der Macht der Ohnmacht angestrebt oder vollzogen werden. Empfindet man großen Genuss bei der absoluten Hingabe beispielsweise der Macht der Musik, von Drogen oder der Liebe, kann das Gefühl von Entscheidungsfreiheit infolge der selbstbestimmten Entscheidung zur Ohnmacht geradezu Rauschzustände hervorrufen. Doch sind diese eher in temporärer Form favorisiert und inkorporieren somit das Problem der selbstbestimmten Beendigung des Ohnmachtzustandes, um nicht in der Abhängigkeit eines anderen oder von etwas anderem zu verbleiben.
"Wo niemand über Macht spricht, ist sie fraglos da, in ihrer Fraglosigkeit zugleich sicher und groß. Wo Macht Thema wird, beginnt ihr Zerfall." (Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter) Auch wenn der Macht befürwortende Duktus meinen Ausführungen bereits entnommen werden konnte, plädiere ich doch für eine stetige Bewusstmachung und Infragestellung gerade von Kontinuität aufweisenden, stabilen Machtverhältnissen, um aus der Abwesenheit ihrer Explizitheit keine sich verselbstständigende Gewohnheit werden zu lassen. Die (Selbst-)Disziplinierung zur kritischen Hinterfragung von Machtstrukturen als Voraussetzung für selbstbewusste Entscheidungen für und aktive Mitgestaltung von Macht ziehe ich als liberaler Freigeist grundsätzlich einer Automatisierung scheinbar einfacherer, vor allem aber bequemerer Machtabgabe und Verantwortungsexternalisierung vor. Wenn Machtverhältnisse weniger als manifestierte Hierarchie, sondern vielmehr als immer wieder neu auszuhandelnde Entscheidensprozesse und Chance für Veränderung auf horizontaler Ebene betrachtet werden, kann dies zu einer Marginalisierung von Extremen wie Ohnmachts- ebenso wie von Allmachts-Gefühlen beitragen.
Strebt das Individuum einen bewussteren Umgang mit der eigenen Machtausübung und Machtabgabe an, benötigt es neben den entsprechenden Informationen vor allem Zeit für die Analyse der jeweiligen sozial geprägten Machtkonstellation sowie den Willen, die Kraft und den Mut zur selbstreflektierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Entscheidung. Aufgabe der rahmengebenden politischen Ordnung besteht in der transparenten Kommunikation des Systemcharakters von Macht sowie seiner Instrumentarien, der Bereitstellung des Zugangs zu Wissen, der dezidierten Aufklärung über den aktiv handelnden Part der sich der Macht Unterwerfenden sowie der Schaffung bzw. Aufrechterhaltung des dynamischen Charakters von Macht. Paradoxerweise scheint gerade die verstärkte Auseinandersetzung mit der Systematik von Macht innerhalb sozialer Gefüge eine Chance zur Fokussierung der Inhalte von Macht darzustellen. Schließlich agiert Macht selbst sinnstiftend, indem wir beispielsweise bereits mit der sprachlichen Zuweisung von Begriffen Besitz von den Dingen ergreifen, sie uns Untertan machen und uns somit für sie verantwortlich zeigen.
Résumierend möchte ich für mehr Mut zur sichtbaren Kommunikation von der Macht zugrunde liegenden Komplexität durch ihre Ausdifferenzierung und Verteilung innerhalb formaler Organisationen plädieren – die wohlbemerkt die Stabilität und Kontinuität von Machtbeziehungen erhöhen –, statt sie selbst zu tabuisieren und zu dämonisieren. Geben wir der Macht wieder eine polyphone Stimme und wagen erst im zweiten Schritt den Versuch von Komplexitätsreduktion in Aushandlungsprozessen um die jeweiligen konkreten Machtverteilungen.
Svenja Schnepel promoviert in der Geschichtswissenschaft zum Thema "Musik als diplomatisches Instrument. Auswärtige Kulturpolitik im deutsch-deutschen Vergleich der 1960er Jahre" und ist seit September 2019 in der Promotionsförderung der FNF.
freiraum #71