Immer mehr Menschen sind von Einsamkeit betroffen. Gerade an Weihnachten sehnen sich viele nach dem Gefühl, dazuzugehören. Ein Artikel aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum".
Alle Jahre wieder! Schnell noch im Kaufhausgedränge die letzten Geschenke besorgen. Bloß nicht den Kassenbon verlieren, falls doch keine Socken auf dem Wunschzettel standen. Über vollgestopfte Autobahnen geht es für die Feiertage zur buckligen Verwandtschaft. Warum eigentlich? Nur, um sich zum hundertsten Mal die Krankengeschichten von Tante Hildegard anzuhören? Oder um sich wieder einmal zu rechtfertigen, warum man noch immer nicht mit dem Studium fertig ist? Vielleicht, um Weihnachten von Menschen umgegeben zu sein, die – wenn man ehrlich ist – gar nicht so furchtbar sind und nun mal zur Familie dazugehören. Oder um schlichtweg nicht einsam zu sein.
Viele Menschen sehnen sich nach solch einem Weihnachtsfest mit Menschen, zu denen man „dazugehört“. Wie sehr würden sie sich über Socken unterm Christbaum freuen – wären sie doch zumindest ein Geschenk. Wie unterhaltend wäre die Geschichte über den letzten Krankenhausaufenthalt – wäre sie zumindest eine Geschichte. Stattdessen sitzen diese Menschen traurig und einsam zu Hause. So wie an den meisten anderen Tagen im Jahr.
Immer mehr Menschen sind von Einsamkeit betroffen. Das Lexikon der Psychologie des Spektrum-Verlags definiert Einsamkeit als „ein subjektives Phänomen, das vielfältige objektive Bedingungsfaktoren aufweist, jedoch vom physischen Alleinsein und von sozialer Isolation sowie dem positiv erlebten Für-sich-Sein […] unterschieden werden muß [sic!]“. Einsamkeit kann zwar mit sozialer Isolation einhergehen, ist jedoch nicht mit ihr identisch. Man fühlt sich nicht automatisch einsam, wenn man allein ist. Genauso gibt es empfundene Einsamkeit, obwohl man objektiv nicht allein ist. Einsamkeit ist ein negatives Gefühl, das traurig macht. Dieser subjektive Zustand der Einsamkeit ist objektiv nicht immer nachvollziehbar.
In einer Umfrage der SPLENDID RESEARCH GmbH aus dem Jahr 2019, die auf einer repräsentativen Stichprobe von 1.006 Personen beruht, gaben rund 17 Prozent der befragten Personen an, sich häufig oder ständig einsam zu fühlen. Etwa 30 Prozent gaben an, sich zumindest manchmal einsam zu fühlen. Einsamkeit war also schon vor Corona ein zunehmendes Phänomen in unserer Gesellschaft. Die Pandemie dürfte die Entwicklungen allerdings zusätzlich verschärft haben.
Obwohl der Statistik nach in Deutschland über 13 Millionen Menschen häufig oder ständig einsam sind, wird dies in der breiten Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen. Wie auch? Betroffene haben häufig niemanden, mit dem sie überhaupt sprechen können. Hinzu kommt, dass Einsamkeit schambehaftet ist und Betroffene Angst vor Stigmatisierung haben. Fakt ist jedoch, dass Einsamkeit nicht nur eine bestimmte Gruppe von Menschen betrifft, sondern sich durch die gesamte Gesellschaft zieht. Vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren und ältere Menschen über 80 Jahre sind von Einsamkeit betroffen. Außerdem gibt es sowohl städtische als auch ländliche Regionen, in denen überdurchschnittliche Einsamkeit identifiziert wurde. Das zeigt, dass wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zu tun haben.
Gründe für chronische Einsamkeit sind vielfältig. Vor allem persönliche Lebensumstände, die eigene Stimmung und zunehmend unpersönliche Kommunikation werden als Ursachen der persönlichen Einsamkeit genannt. In ländlichen Regionen ziehen vermehrt junge Menschen fort. Innenstädte sterben aus, der letzte Bäcker schließt, Dörfer veröden und die ältere und weniger mobile Bevölkerung bleibt allein zurück. In Großstädten dagegen gibt es häufig nicht „die Nachbarschaft“, in der man sich kennt und hilft. Gerade junge Menschen ziehen oft von einer kleinen Wohnung in die nächste Untermiete und werden weniger sesshaft als noch ihre Eltern. Hinzu kommt die scheinbar unendliche Vernetzung über Social Media und Co, die jedoch meist Anonymität und Oberflächlichkeit statt enger Freundschaften befördert. Dagegen anzugehen ist ein komplexes Unterfangen.
Im Landtag von Nordrhein-Westfalen versucht man es dennoch. Schon vor der Corona-Pandemie wurde dort die „Enquetekommission Einsamkeit“ eingesetzt. Ziel ist die „Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit“. Gesamtgesellschaftliche Folgen von Einsamkeit treten dann zu Tage, wenn sich chronische Einsamkeit auf die Leistungsfähigkeit oder die Gesundheit der Betroffenen auswirkt. So können beispielsweise Arbeitgeber von mangelnder Leistungs- und Einsatzfähigkeit ihrer Mitarbeiter betroffen sein, wenn diese unter chronischer Einsamkeit leiden. Zudem kann Einsamkeit zu Depressionen führen, was hohe Kosten für unser Gesundheitssystem bedeutet. Daher bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, um Einsamkeit zu bekämpfen. Die Enquetekommission Einsamkeit hat der schwarz-gelben Landesregierung in NRW ein Maßnahmenpaket mit 35 Punkten vorgeschlagen, das Anfang 2022 veröffentlicht werden soll. Schon jetzt ist klar, dass dies wohl fast alle Landesministerien betreffen wird. Claudia Cormann ist für die FDP-Landtagsfraktion als Sprecherin in der Enquetekommission Einsamkeit: „Wir brauchen eine Koordinierungsstelle – sonst ist am Ende niemand zuständig.“
Andere Länder wie Dänemark, Australien und Großbritannien sind schon deutlich weiter als wir. In Großbritannien richtete die frühere Premierministerin Theresa May 2018 eine Regierungsstelle zur Bekämpfung von Einsamkeit ein. Der „Minister of Loneliness“ soll verschiedene Maßnahmen koordinieren und auf die Berücksichtigung des Themas Einsamkeit in sämtlichen Ressorts hinwirken. Einsamkeit betrifft sämtliche Lebensbereiche und muss daher überall bekämpft werden. Cormann fordert ein Umdenken im Städtebau und schlägt vor, dass sich angehende Städteplaner und Architekten schon während ihres Studiums mit dem Thema Einsamkeit auseinandersetzen. Außerdem brauche es mehr Forschung zu Einsamkeit und ihrer möglichen Folgen.
Auch bei unseren Nachbarn in den Niederlanden rückt das Thema Einsamkeit zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Hier wurde die Supermarktkette JUMBO besonders kreativ und ermöglicht „Einkaufen gegen Einsamkeit“. Die Einrichtung sogenannter Plauderkassen bietet die Möglichkeit, zumindest beim Einkaufen ein nettes Gespräch mit den Verkäuferinnen zu führen, ohne dass sich lange Schlangen mit ungeduldigen Kunden bilden. Wer sich an der „Kletskassa“ anstellt, weiß, worauf er sich einlässt. Ein Besuch im Supermarkt ist besonders niedrigschwellig, sodass dieses Angebot ohne Hürden angenommen werden kann.
Der deutsche Lebensmittelhändler EDEKA hat das Thema Einsamkeit ebenfalls aufgenommen. 2020 veröffentlichte EDEKA erstmalig das sogenannte Nachbarschaftsbarometer. Wie steht es um die Nachbarschaft in Deutschland? Kennt man sich und hilft man einander? EDEKA versteht sich nicht bloß als Lebensmittelhändler, sondern als Teil der Nachbarschaft und als Ort der Begegnung. Im Rahmen des diesjährigen Nachbarschaftsbarometers wurde eine Sonderbefragung zum Thema Einsamkeit durchgeführt. Demnach fühlen sich 19 Prozent der befragten 18-29-Jährigen häufig bis ständig einsam und rund ein Drittel aller Befragten gab an, sich durch Corona häufiger einsam zu fühlen. Auch diese Studie zeigt: Das Thema Einsamkeit ist relevanter denn je und muss dringend von Politik und Gesellschaft angegangen werden.
Schon 2015 hat EDEKA mit dem Werbefilm „Heimkommen“ auf Einsamkeit an Weihnachten aufmerksam gemacht: Ein älterer Mann sitzt Jahr für Jahr allein unterm Christbaum, während sich seine Kinder und Enkel telefonisch von den Feierlichkeiten abmelden. Dann – wieder in der Weihnachtszeit – erfahren die Kinder vom Tod ihres Vaters und reisen trauernd zur vermeintlichen Beerdigung nach Hause. Dort erwartet sie jedoch eine festlich gedeckte Tafel und schließlich kommt der Opa in den Raum und fragt: „Wie hätte ich euch denn sonst alle zusammenbringen sollen?“. Der Film zeigt auf krasse und dennoch sehr emotionale Weise, wie furchtbar Einsamkeit gerade an Weihnachten ist. So viele Menschen wünschen sich, bloß nicht einsam zu sein und irgendwo „dazuzugehören“.
Es mag der ein oder andere wenig Lust auf die hektischen Feiertage bei der anstrengenden Verwandtschaft haben. Vielleicht kann „dazuzugehören“ aber all den Ärger überwiegen. Nicht einsam zu sein ist für die meisten selbstverständlich, für viele jedoch ein Geschenk. Frohe Weihnachten!
Die Autorin Helene Übelhack promoviert im Fachbereich Politikwissenschaften an der RWTH Aachen. Sie ist Promotionsstipendiatin der FNF.
freiraum #72
Artikelbild: Laura Nyhuis