Von Micha P. Fertig
Schwerpunkt
Es war Dienstag, der 17. März 1959, als Tendzin Gyatsho fluchtartig seine Heimat verlassen musste. Zu dieser Zeit setzte der chinesische Drache zu seinem Höhenflug an, das Ziel war das Dach der Welt, das tibetische Hochland, eine der höchstgelegenen Regionen der Welt. Es ist circa viermal so groß wie die heutige Bundesrepublik, ein geopolitisch wichtiges Territorium, die Wasserscheide Asiens, strategisch günstig zwischen China und Indien gelegen. China, dieses beeindruckende, riesige Land mit einzigartiger Kultur und faszinierenden Menschen, regierte Mao Zedong, dessen Volksbefreiungsarmee 1950 vorrückte und das Gebiet rücksichtslos militärisch besetzte. Der Tibetaufstand von 1959, der sich dieses Jahr zum sechzigsten Mal jährt, richtete sich gegen die Besatzung und die kommunistische Regierung der Volksrepublik und hatte die Vertreibung des jungen Oberhauptes der Tibeter aus seiner Heimat zur Folge. Tausende Tibeter mussten ihm in den anschließenden Jahrzenten folgen.
Mit dem damals 24-jährigen Dalai Lama vertrieben die Truppen des Mao Zedong damals das Oberhaupt der tibetischen Regierung sowie das geistliche Oberhaupt der Tibeter. Der tibetische Staat, „zum Zeitpunkt der gewaltsamen Einverleibung Tibets in den chinesischen Staatsverband […] ein unabhängiger Staat“, wie es eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages darlegt, war führungslos geworden. Die anschließende Ermordung von mindestens 80.000 Tibetern und die bis heute andauernde Zerstörung der kulturellen Identität, beispielsweise durch das Einreißen von Klöstern, das Verbot der Sprache und die Zerstörung des Ökosystems, zielt darauf ab, jegliche Existenz einer tibetischen Kultur zu negieren. Die perfide Logik dahinter: Ohne Volk hat der von der UN-Generalversammlung angenommene Pakt bezüglich des Selbstbestimmungsrechts keine Grundlage mehr, in dem es heißt: „Kraft dieses Rechts entscheiden [die Völker] frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ Das Recht auf Selbstbestimmung ist selbst für Juristen äußerst diffizil und muss stetig neu bewertet werden. Die Katalanen berufen sich darauf, um sich vom spanischen Staat loszusagen. Pudgemont musste daraufhin ebenfalls, wenn auch unter keinen lebensbedrohlichen Umständen, aus seiner Heimat fliehen. Die rechtswidrige Annexion der Krim durch Russland 2014 wurde auch mit der Begründung durchgeführt, die Halbinsel im Schwarzen Meer wäre doch ohnehin bereits weitestgehend russisch geprägt. Es offenbart sich also das Dilemma des Selbstbestimmungsrechts: Ab welcher Größe ist das Volk ein Volk, ab wann besteht kulturelle oder ethnische Homogenität? Ab wann erfolgt eine Unterdrückung durch den Staat? Wird der Liberalismus bis an seine Grenzen konjugiert, beruhen staatliche Strukturen inhärent auf Zwang: Nur der Staat kann so massiv seine Mittel dazu nutzen, in jedwede Rechte der Bürger einzugreifen. Die Konsequenzen dieser gewaltigen Machtfülle werden uns vor allem bei totalitären Systemen vor Augen geführt. Breiter Konsens in der heutigen, westlichen Gesellschaft ist allerdings, dass staatliche Strukturen für das geordnete Zusammenleben erforderlich sind und dieser seinen Bürgern Freiheiten garantiert, dass [aber] die Staatsmacht verfassungsmäßig einer permanenten Kontrolle untersteht. Dies alles trifft auf die tibetische „Autonomieregion“ allerdings nicht im Geringsten zu.
Menschenrechte im chinesischen Machtbereich unterstehen der Interpretation der Führung der kommunistischen Partei. Willkür und Machtmissbrauch sind somit Tür und Tor geöffnet. Unzählige derartige Fälle dokumentieren das Tibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) und die Tibet Initiative Deutschland, die sich für die Rechte der Exiltibeter einsetzt, allein für das tibetische Gebiet. Neue Antiterrorgesetze und Straftatbestände wie „Aufstachelung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ ließen die Verurteilungen in die Höhe schnellen. Knapp 1600 Tibeter, die allein 2016 verhaftet, verurteilt oder schlichtweg „verschwunden“ sind. Eine unsichere Datenlage, denn die Verbreitung dieser Informationen führte dazu, dass sich die eben genannte Zahl auf 1601 erhöhen würde. Diese Staatsmacht spürten ebenfalls der berühmte Gegenwartskünstler Ai WeiWei und der Friedensnobelpreisträger aus dem Jahre 2010, Liu Xiaobo. Dass es sich hier definitiv nicht um Einzelfälle handelt, zeigen die jüngsten erschreckenden Berichte über die Lagersysteme für muslimische Minderheiten, Uiguren, Kasachen und Kirgisen. Weiter pervertiert wird dieses System durch die Tatsache, dass eine Verurteilung im Reich der Mitte ein Geständnis des Angeklagten erfordert, was Folter zur Routine macht. Häufig sterben die Festgenommenen in den ersten Tagen nach der Festnahme oder während ihrer Zeit im Gefängnis. Aussagen von politisch Verfolgten lassen darauf schließen, dass während der sich über Wochen oder manchmal sogar ein ganzes Jahr erstreckenden Vernehmungsphase Schläge und weitere Foltermethoden eingesetzt werden.
Dennoch, für ihren gewaltlosen Kampf auf Selbstbestimmung, um ihre Sprache zu sprechen und ihre Meinung zu sagen, gehen die Tibeter weiter, als es die Vorstellung erlaubt: So beispielsweise der siebzehnjährige Mönch Lobsang Dhamchoe, der sich am 27. August 2012 mit Benzin übergoss und selbst anzündete. Wenn die westliche Welt die Hilferufe der Tibeter überhört, vielleicht hört sie seine Schreie? Dabei ist er nicht allein: Lobsang Sherab, 20 Jahre alt, 2. März 2012, Kreis Ngaba, verbrannte sich und starb auf der Stelle. Dorjee, 18 Jahre alt, aus der Provinz Sichuan: Er verbrannte am 5. März 2012 und starb innerhalb von Minuten. Seit 2009 kam es zu 155 bestätigten Selbstverbrennungen in Tibet. Die Verbreitung der Bilder führt zu hohen Haftstrafen aufgrund der „Weitergabe von Staatsgeheimnissen“.
Dabei folgen die Tibeter ihrer Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama, und bleiben stets friedlich. Die Tibeter verzichten inzwischen bereits auf die Forderung nach Unabhängigkeit. „Was ist der Sinn, dass ihr euer Leben opfert“, fragte der Dalai Lama seine Landsleute, als mehrere hundert Personen einen Friedensmarsch von Delhi nach Lhasa planten, auch auf die Gefahr hin, zusammengeschlagen und verhaftet zu werden. „Viel besser, als sein Leben zu opfern, ist es, sein Leben zu leben und in der Welt etwas Positives zu gestalten“, fügte er hinzu. Der Dalai Lama kam so der chinesischen Regierung einen großen Schritt entgegen, und zwei Drittel der Bevölkerung stimmten in einem Referendum für den sogenannten mittleren Weg: Der Verzicht auf die ihnen zustehende Unabhängigkeit, aber die Ermöglichung der internationalen Unterstützung, welche dringend benötigt wird. Nur so bestehe laut Nawang Lhamo, ehemaligem Mitglied der demokratisch gewählten tibetischen Exilregierung, welche im indischen Dharamsala ihren Sitz hat, die Chance, dass in Tibet noch etwas Tibetisches erhalten bleibt.
Doch wenn das Kollektiv die ganze Gesellschaft ausfüllt, bleibt für das Individuum kein Platz mehr. Dies sehen auch die Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen in ihrer Erklärung so: „Heute sind Kultur, Sprache, Identität und Religion der Tibeter in ihrer Existenz bedroht“. Den Druck auf die chinesische Regierung hochzuhalten ist dabei wesentlich: Es zeigt den Exiltibetern, dass sie nicht vergessen sind und es stärkt die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie, dass uns trotz unbestreitbarer wirtschaftlicher Interessen in der Zusammenarbeit mit China die Menschenrechte mehr wert sind als das Papier, auf dem sie gedruckt sind. In Anbetracht der massiven Menschenrechtsverletzungen, welche dem Kern der liberalen Weltanschauung diametral gegenüberstehen, wäre allerdings eine stärkere Artikulation dieser Problematik nicht nur, aber auch gerade in der liberalen Fraktion zu erwarten. Darauf zu pochen, darauf zu bestehen wird umso dringlicher hinsichtlich der Avancen des chinesischen Staates, der seinen Einfluss schon längst über Regionen wie Tibet auszudehnen versucht. Der Einfluss reicht inzwischen durch Projekte wie das der neuen Seidenstraße von griechischen Häfen bis zur deutschen Infrastruktur (Duisburg). Europäische Staaten sollten sich aber davor hüten, die eigenen, aus diversen Gründen aufgeschobenen Reformen, die zunehmend klammen Staatskassen aufgrund der schwächelnden Wirtschaft mit Hilfe chinesischen Geldes übertünchen zu wollen, und im Gegenzug dafür zu schweigen.
Das chinesische Regierungssystem, häufig bewundert für sein entschlossenes Handeln und seine klugen, strategischen Entscheidungen hat unübersehbare Schattenseiten: Es ist auf permanenten Erfolg und totale Kontrolle angewiesen, duldet weder Kritik noch Pluralität noch Menschenrechte, es drangsaliert, überwacht und verfolgt seine eigenen Bürger gnadenlos. Es kann dahingehend keinerlei Vorbildcharakter haben, Lobhudelei gegenüber diesem System offenbart Unwissenheit – oder das Fehlen von Moral. Aber vielleicht nehmen wir uns einfach die Worte des berühmten Nobelpreisträgers von 1989 zu Herzen: „Öffne der Veränderung deine Arme, aber verliere dabei deine Werte nicht aus den Augen.“ – Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama.
freiraum #63