Irma Stern als Pionierin der südafrikanischen Moderne. Von Lisa Hörstmann

Forschung



Als ich vor fast zehn Jahren das erste Mal in Kapstadt war, besuchte ich auch das ehemalige Wohnhaus der Malerin Irma Stern, das nach ihrem Tod 1966 in ein Museum umgewandelt worden war. Am Berghang in Rondebosch in unmittelbarer Nähe zur Universität gelegen, präsentiert sich in dem im Cape-Dutch-Stil gehaltenen Haus eine Fülle an Malereien der Künstlerin, an afrikanischer und alter europäischer Kunst sowie an Möbeln und Keramiken. Stern sammelte, was ihrem geschulten Auge gefiel. In Bann gezogen von diesem Gesamtkunstwerk, begann ich, über die Malerin zu recherchieren. Das Ergebnis beeindruckte mich so sehr, dass ich Jahre später entschied, ausgehend von Stern ein Promotionsprojekt zu entwickeln.

Irma Stern wurde 1894 als Tochter eines deutsch-jüdischen Migrantenpaares in Schweizer-Reneke im damaligen Transvaal geboren. Ihre Eltern waren aus wirtschaftlichen Gründen Anfang der 1890er Jahre nach Südafrika emigriert und die Familie zog wegen des Zweiten Burenkriegs und des Ersten Weltkriegs mehrmals zwischen Südafrika und Deutschland hin und her. Ab 1913 besuchte die 18-jährige Irma zunächst die Großherzoglich-Sächsische Kunstschule in Weimar und studierte ab Ende 1914 bei Martin Brandenburg in Berlin. 1917 erregte ihre Arbeit das Interesse des ebenfalls in Berlin lebenden Malers Max Pechstein. Über ihre ähnliche Bildsprache und gemeinsame Begeisterung für vermeintlich „primitive“ Kulturen entwickelte sich eine, für Irma Stern sicherlich wegbereitende, Freundschaft zwischen den beiden Künstlern. So wurde Stern 1918 auf Einladung Pechsteins Gründungsmitglied der Novembergruppe und zeigte 1919 ihre erste Einzelausstellung in der wichtigen Berliner Galerie Fritz Gurlitt, die neben Pechstein auch andere Brücke-Künstler*innen vertrat.
Mit diesem Erfolg im Rücken zog Stern Ende 1920 nach Kapstadt, wo sie trotz zahlreicher Reisen und Auslandsaufenthalte bis zu ihrem Tod ihren Lebensmittelpunkt behielt. Dort zeigte sie auch ihre erste Einzelausstellung in Südafrika, die sie selbstbewusst „An Exhibition of Modern Art by Miss Irma Stern“ nannte – dies war das erste Mal, dass der Begriff „modern“ für südafrikanische Kunst verwendet wurde. Entsprechend groß waren die Aufregung und das Entsetzen über die in der Ausstellung gezeigten Bilder, aber auch der Besucherandrang. Sterns expressionistische Portraits schwarzer Südafrikaner*innen fanden zunächst nur bei einem ausgewählten Kreis meist jüdischer Intellektueller Anerkennung. Diese setzten sich stark für die Künstlerin ein und zitierten den Erfolg, den sie mit ihren Ausstellungen in Europa erzielte, in der südafrikanischen Presse. 1927 veröffentlichte der deutsche Kunsthistoriker Max Osborn eine Monographie über sie in der Reihe Junge Kunst, die ebenfalls Ausgaben zu Pablo Picasso und Pechstein umfasste. Die Tatsache, dass diese Monographie eine englische Übersetzung der deutschen Texte enthielt (der Picasso-Band bestand beispielsweise nur aus deutschen Texten), zeigt, dass hier bereits auch an ein südafrikanisches Publikum gedacht wurde. In Südafrika reichte Sterns Legitimierung über ihren europäischen Erfolg sogar so weit, dass die Presse wörtliche Übersetzungen deutscher Rezensionen abdruckte. Jener rührte vor allem daher, dass sie sich geschickt als „authentische“ afrikanische Künstlerin und Kennerin „des Primitiven“ positionierte. Mit ihren exotisierenden Darstellungen schwarzer Südafrikanerinnen machte sie ihren Vorteil gegenüber anderen Primitivist*innen, die ihre Sujets meist nur von Reisen oder aus ethnologischen Museen kannten, von Anfang an geltend. Auch die Presse erwähnte stets ihre Sonderrolle als Afrikanerin und sprach ihr somit eine größere Unverfälschtheit als Gauguin oder Pechstein zu.
Während sie in Deutschland nach 1945 zunehmend in Vergessenheit geriet und heute keiner deutschen Kunsthistoriker*in, die sich nicht mit Südafrika auseinandersetzt, mehr bekannt ist, avancierte sie in Südafrika zur Wegbereiterin der Moderne und absoluten Pionierin. Ihre Arbeiten werden heute für bis zu fünf Millionen US-Dollar auf dem internationalen Kunstmarkt verkauft. Die Tatsache, dass sie trotzdem in Europa völlig in Vergessenheit geriet, ist sicherlich der doppelten Marginalisierung der Kunst außereuropäischer Modernen – diese werden in den Kunstzentren Europas und Nordamerikas meist gemeinhin als „Abklatsch“ bezeichnet – sowie der Kunst von Frauen geschuldet. Auch in Südafrika wird sie, trotz ihrer kunsthistorisch so bedeutsamen Rolle, von den prominentesten Kunsthistoriker*innen als übergewichtige, exzessive, unleidliche, streitsüchtige, sexuell frustrierte Frau beschrieben, die schwarze Frauenkörper als Alternative zu ihrer eigenen (körperlichen) Identitätskrise malte. Obwohl Sterns Darstellungen schwarzer sicherlich rassistisch sind, empfinde ich eine psychologisierende, entpolitisierte Interpretation ihrer Arbeiten als höchst problematisch. Mehr als für Sterns Essgewohnheiten, Charaktereigenschaften oder Sexleben interessiere ich mich für die Tatsache, dass sie die primitivistische Haltung ihrer Künstlerkolleg*innen im Berlin der 1910er und 1920er aufgriff, sich geschickt als Expertin in diesem Bereich positionierte und dann mit eben dieser primitivistischen Haltung für Umwälzungen in ihrer südafrikanischen Heimat sorgte.

Stern wurde damit zum maßgebenden Mitglied einer Bewegung, die sich als Siedlerprimitivismus bezeichnen lässt. Dieser unterscheidet sich vor allem dahingehend vom europäischen Primitivismus, dass er zum Ziel hatte, den vermeintlichen Anspruch auf das besiedelte Land gegenüber der ursprünglichen Bevölkerung zu rechtfertigen sowie sich von den europäischen Mutterstaaten durch die Erschaffung einer „eigenen“, „nationalen“ Kunst zu emanzipieren. In meinem Promotionsprojekt möchte ich den südafrikanischen Siedlerprimitivismus näher untersuchen. Dabei gehe ich von drei Hypothesen aus. Meine erste Hypothese ist, dass der Siedlerprimitivismus in Südafrika aufgrund seiner Transnationalität von einer großen Ambivalenz zwischen der konstanten Orientierung nach Europa und der gleichzeitigen Erschaffung einer spezifisch südafrikanischen Identität geprägt war, die auch das ambivalente Verhältnis der Künstler*innen zu den von ihnen portraitierten schwarzen Südafrikaner*innen verstärkte. Meine zweite Hypothese ist, dass Künstlerinnen wie Irma Stern durch eine geschickte Einbettung in den vorherrschenden Primitivismus-Diskurs als weibliche Avantgarde die südafrikanische Moderne bestimmen konnten. Drittens gehe ich davon aus, dass die Rezeption der Siedlerprimitivist*innen spätestens seit dem Beginn der Apartheid politisch beeinflusst war, da fast allen Künstler*innen ein gesellschaftspolitisches Interesse unterschlagen wurde. Meine Analyse stützt sich auf einzelne, wichtige Arbeiten der Protagonist*innen, auf von ihnen verfasste Texte – die teilweise zur Veröffentlichung verfasst wurden, teilweise Briefwechseln oder Tagebüchern entstammen – sowie auf die zeitgenössische und spätere Rezeption.

freiraum #65