Zur Bedeutung der Wende aus jüdischer und migrantischer Perspektive. Von Moritz Meier und Eva Schwecher.
Schwerpunkt
„Wir sind das Volk!” So lautete der gefeierte Spruch der friedlichen ostdeutschen Demonstrant:innen, der seit den Montagsdemonstrationen von „Pegida“ wieder bundesweit skandiert wird und von Bundestagsabgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD) aufgegriffen wurde: „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, […] dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk […]!“ Wer aber ist dieses „wir” und wer war mit dem „Volk” gemeint? Oder eher, wer nicht?
Das mehrheitsgesellschaftliche Selbstverständnis von deutscher Identität ist exklusiv geprägt. Der ethnische Hintergrund ist für die Zuschreibung des spezifisch „Deutschen” nach wie vor zentral. Als „deutsch“ bezeichnet wird vor allem, wer eine ganz und gar deutsche Abstammung aufweisen und somit auch von außen so wahrgenommen werden kann. Darin liegt ein großer Unterschied zum beispielsweise US-amerikanischen Verständnis: Auch wenn der Pass das offizielle Kriterium ist und im Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zweifellos an Bedeutung gewonnen hat, wird die Frage, wer US-Amerikaner:in ist, in der Migrationsgesellschaft par excellence im Durchschnitt eher mit dem Argument der Staatsbürgerschaft beantwortet. Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft hingegen werden alle Bürger:innen, die entweder aufgrund von Äußerlichkeiten nicht als deutsch gelesen werden oder deren Stammbaum nicht über die zu überblickenden Generationen hinweg auf ethnischen Deutschen aufbaut, im Ausdruck des „deutschen Volkes” immer noch nicht mitgedacht. Damit geht als erstes eine Zuschreibung einher, die in den modernen Sozialwissenschaften „Othering“ genannt wird: Wir sind Deutsche, ihr die anderen. Das impliziert bereits den Ausschluss „der anderen“ aus der Gemeinschaft.
Mit dem Einreißen der Berliner Mauer war der Kalte Krieg gewonnen. Ein Jahr später gliederten sich fünf Bundesländer an die Bundesrepublik an. Zusammen mit 160 Kilometern Betonwand war eine Diktatur gefallen! Ein Grund zum Feiern. Die deutsch-deutsche Party aber war wieder eine exklusive. Einige, die ausdrücklich mitfeiern wollten, waren nicht eingeladen. Ihre Erfahrungen mit der Vereinigung sind für die geladenen Gäste und Ausrichtenden der großen Fete wohl nach wie vor missliebige Stimmungskiller, die sie deswegen konsequent ignorierten. Denn die völkische Gemeinschaft ist mitnichten ein Konzept, dass von 1945 bis 2015 ad acta gelegt worden wäre und von der AfD neu erfunden werden musste. In der postnationalsozialistischen Gesellschaft lebten die großdeutschen Fantasien eines wieder erstarkenden deutschen Volks mit der deutschen Einheit nur wieder richtig auf. Schließlich war es die Teilung selbst, die als unmittelbare Konsequenz in aller Deutlichkeit an die deutschen Verbrechen und die eigene Niederlage erinnerte. Die Einheit stellte demgegenüber das ideale Moment dar, mit der lästigen Vergangenheit zu brechen: den Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit von 1933-1945 zu setzen, den 2020 noch immer 53% der Deutschen ersehnen. Das war endlich greifbar! Laut der Politikwissenschaftlerin Lydia Lierke und dem Historiker Massimo Perinelli fungierte das Konstrukt der völkischen Gemeinschaft als maßgeblicher „Motor der deutschen Wende”.
Das Wiederaufleben des deutschen Nationalismus hatte sehr schnell Konsequenzen für Migrant:innen, Juden und Jüd:innen und solche, die sich dem entgegenstellten. Noch am 9. November und 10. November 1989 machten sich einige migrantische Zeitzeug:innen zu den Grenzübergängen oder zur Mauer auf, um Teil des als historisch empfundenen Geschehens zu werden. Sie berichten allzu häufig, wie sie vor Ort von der Massenbewegung verächtlich weggescheucht worden sind. Unter dem Namen „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet man heute die (vor allem ostdeutsche) Realität der 1990er Jahre, die der Schriftsteller und jüdische Kontingentgeflüchtete Dimitrij Kapitelman so beschreibt: „Wir haben die Ukraine verlassen, weil man gesagt hat, dass Juden und Jüd:innen in Osteuropa von Antisemitismus bedroht seien und dass Deutschland eine historische Verantwortung für sie übernehme – und dann erlebst du die Farce, dass du in Ostdeutschland von Nazis umzingelt bist und um dein Leben rennen musst.“ Zwischen 1990 und 1999 schafften mindestens 110 Menschen dieses Rennen nicht und wurden ermordet. Zum Beispiel Mahmud Azhar, der am 7. Januar 1990 rassistisch beleidigt und angegriffen wurde und diesen Folgen erlag. Oder Amadeu António Kiowa. Oder Nihat Yusufoğlu. Oder die Familien mit türkischem Hintergrund in Mölln und Solingen, die durch Brandanschläge auf ihre Wohnungen ermordet worden sind. Auch Nichtrassifizierte waren betroffen: Silvio Meier sprach Jugendliche auf rechtsextreme Aufnäher an und wurde daraufhin von ihnen erstochen. Die Namen der Opfer sind in der breiten Bevölkerung heute weitestgehend vergessen, oder ihnen wurde nie gedacht. Zwei weitere Ereignisse, aus denen mit großem Glück keine direkten Todesopfer hervorgingen, müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden: Rostock-Lichtenhagen und das sächsische Hoyerswerda. In Hoyerswerda fanden 1991 über sechs Tage hinweg Angriffe von über 500 Personen auf ein Wohnheim der ausländischen Vertragsarbeiter:innen und eine Geflüchtetenunterkunft statt. Die Bewohner:innen waren dabei über lange Zeit hinweg auf sich selbst gestellt. In Rostock-Lichtenhagen starteten mehrere hunderte Rechtsextreme Pogrome gegen Geflüchtete und vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. Diese gingen vier Tage lang. Auch hier wurde eine Unterkunft in Brand gesetzt, und die 3.000 (!) applaudierenden und jubelnden Zuschauer:innen hielten auch hier die Polizei und Feuerwehr auf einzuschreiten und machten den Schutz zeitweise zur eigenverantwortlichen Aufgabe der Betroffenen. Dieser Vorfall zog im August 1992 eine Vielzahl von Nachahmungstaten nach sich. Morde sind bloß die extremste, nicht wiedergutzumachende Konsequenz des Rechtsterrorismus und des deutschen Nationalismus. Die Eroberung öffentlicher Räume durch Rechte sowie der lebensbedrohliche und von Einschüchterungen geprägte migrantische Alltag der „Baseballschlägerjahre“ ist damit noch gar nicht vollends erfasst. Die Politik ließ das nicht unkommentiert: der „Einheitskanzler“ Helmut Kohl weigerte sich, an den Trauerfeiern für die Ermordeten von Mölln und Solingen teilzunehmen, weil die Bundesregierung nicht in einen „Beileidstourismus“ verfallen wolle. Stattdessen verabschiedete die konservativ-liberale Regierung 1993 unter Zustimmung der sozialdemokratischen Opposition den sogenannten verfassungsändernden „Asylkompromiss“, der das Asylrecht einschränkte. Weite Teile der Ausländer:innen in Ostdeutschland wurden abgeschoben.
Rassistische und antisemitische Taten sind natürlich nicht erst mit der Wende wiederaufgekommen. Es werden zwei zumindest im deutschen Kollektivbewusstsein wenig bekannte Beispiele einer kontinuierlichen Tradition aufgegriffen: 1980 wurde der Rabbiner Shlomo Levin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke im Westen von einem Mitglied der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ ermordet, in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gab es 1975 bereits Pogrome gegen algerische Vertragsarbeiter:innen in Erfurt. Neu an den „Baseballschlägerjahren“ hingegen war, dass diese Vorfälle massentauglich geworden waren. Nicht nur in Rostock-Lichtenhagen wird von schweigenden, zuschauenden und befürwortenden Mengen von Zuschauer:innen berichtet. Gleichzeitig muss in Anbetracht der Reaktionen seitens der Politik und der staatlichen Institutionen mindestens vom dröhnenden Schweigen, wenn nicht sogar von Zuarbeit gesprochen werden. Aus dieser Perspektive stellt die Einheit eine Zäsur dar. Zweifellos ist durch den Fall der DDR auch ein institutionalisierter, meist israelbezogener Antisemitismus in weiten Teilen aufgehoben worden. Dafür erlebte das völkische Deutschtum mit der Einheit tatsächlich eine Renaissance, die noch immer andauert und in dessen Tradition nicht nur der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) (sowieder „NSU 2.0“), sondern auch die AfD und der organisierte, bewaffnete Rechtsterrorismus allgemein stehen.
Moritz Meier studiert Geschichte und Sozialwissenschaften mit Lehramtsoption an der Universität Bielefeld.
Eva Schwecher studiert Jura an der Universität Passau. Die Autoren weisen daraufhin, dass bei “Juden und Jüd:innen” die Nennung beider Formen Absicht ist, da das Wort “Jude(n)” eine Diffamierungs- und Tabuisierungsgeschichte mit sich trägt und deshalb nicht abermals vom generisch femininen Plural verdrängt werden soll.
freiraum #68