Perfekt, perfekter, am perfektesten? Immer mehr sogenannte Vorbilder zeigen, was es zu tun gilt, um gesund, schön, erfolgreich, begehrenswert zu sein – zum Nachmachen geeignet? Von Tanja Mörstedt

5 Uhr morgens. Mit einem Lächeln auf den Lippen blicke ich meinem Wecker entgegen, der mich mit sanften Tönen ins Reich der Lebenden bringt. Eine frische Brise weht mir ins Gesicht, als ich am offenen Fenster den neuen Tag begrüße. Mit dem Zurechtmachen meines Bettes ist bereits das erste Ziel des Tages erreicht. Es fühlt sich so gut an zu wissen, dass die nächsten Stunden nun mir gehören. Keine Nachrichten, die mich ablenken könnten, niemand, der mich dabei stört, mein volles Potential zu entfalten. Bevor mein Umfeld sich aus den Federn quält, habe ich bereits mein Workout für den Tag erledigt und befinde mich frisch geduscht und mit voller Energie am Frühstückstisch, an dem ich meinem Körper mit einem frischen Avocado Toast die Energie gebe, die er verdient. Der Geruch meines Matcha Tees fängt sich in meinen Nasenflügeln und ich beginne, in Gedanken zu schwelgen.

Wie viel besser es mir doch geht, seitdem ich begonnen habe, mich um mich zu kümmern. Ich habe aufgehört, Süßigkeiten und Fastfood zu konsumieren, mein Handy nehme ich erst nach 10 Uhr in die Hand und die Mitgliedschaft im Fitnessstudio hat auch endlich angefangen, sich auszuzahlen, seitdem das mein erster Gang des Tages geworden ist. Könnte es reden, bin ich mir sicher, mein Journal wäre stolz auf mich. So viele Worte, wie es in sich trägt, so viel Dankbarkeit, so viele Ziele – ich könnte vermutlich jetzt schon einen Roman damit füllen. Schaue ich mir meine Bilder von vor zwei Monaten an, erkenne ich mich nicht wieder. Ich war ein Nichts davor. Für mich gibt es nur noch diese Zeitrechnung. Davor. Danach. 55 Tage. Ich habe mein komplettes Leben umgestellt, es lebenswert gemacht. Mich bewundernswert gemacht. Ich bin stolz auf mich. Die Gedanken, die mich am Frühstückstisch beschäftigen, sind Gedanken der Dankbarkeit, der Freude. Was auch sonst? Wer positiv denkt, dem wird Positives widerfahren. Das Gesetz der Anziehung. Und wie sollte ich nicht positiv sein? Ich entwickle mich jeden Tag ein bisschen weiter. Jeden Tag nur ein kleines Stück. Nachdem nun auch das letzte Stück Toast achtsam in meinem Magen verschwunden ist, mache ich mich ans Lernen. Ich möchte lernen. Ich liebe mein Studium. Und seit ich mit der Pomodoro Technik begonnen habe und mich virtuelle Bäume stets daran erinnern, habe ich auch aufgehört zu prokrastinieren. Meine Videos höre ich meist auf doppelter Geschwindigkeit. So ist es mir möglich, das meiste aus meiner Zeit herauszuholen. So ist es mir möglich, neben dem Studium zu lesen, mich weiterzubilden und dennoch Zeit für Freunde zu haben. Auch diese sind nun stark selektiert worden. Wer mir nicht guttat, wer nicht meinen Weg mitgehen wollte, der musste aus meinem Leben treten. Übrig geblieben ist eine Handvoll wahrer Freunde. Ich weiß, dass sie immer für mich da sind. Heute Abend treffe ich mich zum Mädelsabend. Wir tauschen uns bei einem Glas Wein und mit Masken im Gesicht zu unseren neuesten Errungenschaften aus. Wir unterstützen einander, sind stolz aufeinander. Nur wer den Erfolg bei anderen würdigt, kann ihn auch an sich erfahren. Neid empfinde ich kein bisschen. Noch eine kurze Story für Instagram. Ein Zeichen, dass ich lebe und 10 Minuten zur Interaktion mit meinen Freunden und mit mich inspirierenden Seiten. Mittlerweile braucht mich mein Handy nicht einmal mehr an die Bildschirmzeit zu erinnern. Das Limit von einer Stunde am Tag habe ich schon Wochen nicht mehr erreicht, ich weiß gar nicht, wann … Ein letztes Lächeln liegt auf meinen Lippen, als ich im Bett eingekuschelt an mein perfektes Leben denke. Ich habe alles geschafft, was ich heute erreichen wollte. Ich habe es geschafft. Ich bin „that girl“.

Über 500.000.000 Ergebnisse. Das ist die Zahl der Vorschläge, die mir Google liefert, wenn ich danach suche. Allein über 100.000.000 Videos listet YouTube zu dem Thema. Und eine Gesellschaft, in der die Zahl derer, die sich daran versuchen, von Tag zu Tag zunimmt. Die Rede ist davon, „that girl“ zu werden. Und selbst, falls du es bis zu diesem Moment erfolgreich geschafft hast, vor dem „Hype“ zu fliehen, wirst du es wohl kaum verneinen können, noch nichts davon mitbekommen zu haben, welcher Wandel sich gerade in unserer Gesellschaft vollzieht. Wir reden alle davon, die beste Version unserer selbst zu werden. Die Buchläden sind voll von Persönlichkeitsratgebern. Du bist nicht selbstbewusst genug? Du bist nicht achtsam genug? Du bist nicht produktiv genug? Für jedes dieser Probleme könnte ich dir adhoc mindestens drei Bücher nennen, die sich im letzten Jahr als Verkaufsschlager erwiesen haben. Es sind Themen, die uns anscheinend alle interessieren.

Und sie alle überliefern im Grunde die gleiche Nachricht: Du bist nicht genug.

Ich habe mich schon oft gefragt, woher dieser Gedanke kommt. Denn auch wenn die ersten Videos zu diesem Thema auf 2021 datiert sind, glaube ich fest daran, dass der Ursprung dessen viel tiefer liegt. Wir sind unser ganzes Leben schon auf der Suche nach Vorbildern, Personen, zu denen wir aufschauen können. „Ein Vorbild ist eine Person oder Sache, die als richtungsweisendes und idealisiertes Muster oder Beispiel angesehen wird“, so erklärt es Wikipedia. Doch wenn es dieses Konzept schon so lange gibt, warum wurde es erst jetzt so populär? Leider fehlen dazu aktuell noch Studien, die die kausale Wirkungsweise verdeutlichen können. Ideen, die mir in dem Zusammenhang gekommen sind, sind solche, die unsere generelle Unsicherheit im Zuge der Corona-Pandemie adressieren sowie solche, die die Veränderung der Persona des Vorbilds betreffen. Denn plötzlich handelt es sich nicht mehr um Justin Bieber oder Kylie Jenner, die in unseren Gedanken weit überhöht und unantastbar repräsentiert werden, plötzlich handelt es sich bei den Vorbildern um Personen, wie du und ich.

Und plötzlich wirkt das Ziel, sei es Gesundheit, Produktivität oder Erfolg, gar nicht mehr so weit entfernt.

Aus der kognitionspsychologischen Sicht führt das wiederum dazu, dass wir uns und das entsprechende Vorbild nun mental in die gleiche Kategorie einordnen und das führt wiederum zu Vergleichen. Ich fange nun an, mein Leben mit dem Dargestellten gegenüberzustellen. Wie schafft die Person es, um 5 Uhr motiviert und frisch aufzustehen, während ich mich gerade so um 8 aus den Federn quälen kann? Woher nimmt sie die ganze Freude und die Motivation für den Sport? Warum kann ich das alles nicht? Leider hört es bei diesen Vergleichen noch nicht auf. Denn im nächsten Schritt beginnt in vielen Fällen die Kritik an unserer eigenen Person.
Eine konstruktive und zielführende Kritik kann angebracht sein, wir müssen uns jedoch von dem Gedanken verabschieden, uns nie selbst genügen zu dürfen — und nicht selten führt uns ein solcher Vergleich in eine kürzere oder längere Abwärtsspirale und vor allem in einen enormen Leistungsdruck. So fällt es zunehmend schwer, sich Zeit und Ruhe für sich selbst zu nehmen und man versucht, immer noch eine Spur besser zu sein, sich also unentwegt selbst zu optimieren.
Erfahrungsgemäß ist das Problem hierbei nämlich: Wenn man es schafft, eine Optimierung vorzunehmen, ist diese häufig nur kurzzeitig zufriedenstellend, langfristig streben wir aber weiter nach der nächsten und übernächsten Optimierung und haben somit immer das Gefühl, niemals am Gipfel anzukommen. In den meisten Büchern lesen wir lediglich davon, dass wir Menschen faul sind und damit Probleme haben, uns aufzuraffen oder überhaupt etwas zu schaffen. Freilich gibt es solche Leute, die ständig unter ihrer fehlenden Selbstdisziplin leiden, doch genauso gibt es Menschen, die auf der anderen Seite stehen und ihre Augen schon lange vor dem verschlossen haben, was sie bis zu diesem Zeitpunkt bereits geleistet haben. Für mich stellt dieser nicht zu unterschätzende Anteil unter uns einen Anteil der Vergessenen dar. Und dieser Anteil ist in unserer Leistungsgesellschaft besonders hoch. Gerade für sie ist es gefährlich, auf eine solche Kultur wie die „becoming that girl“ Bewegung zu stoßen. Ihnen wird in dieser Situation eine gewisse Faulheit negativ eingeredet. Sie beginnen, zu pauschalisieren. Statt sich als den erfolgreichen Menschen zu sehen, den sie eigentlich verkörpern, fangen diese Menschen plötzlich an, nur noch das zu sehen, was sie nicht haben und nicht tun und vor allem nicht sind. Das bedeutet, sie lassen sich weder dadurch verunsichern, dass ihnen eine mögliche Unproduktivität unterstellt wird, noch dadurch, dass sie an allen Stellen etwas ändern müssten. Für verunsicherte Menschen ist es in diesem Moment leicht, Situationen aufzuzählen, in denen sie unproduktiv waren und nichts geleistet haben. Im nächsten Moment ist ihnen häufig unbewusst, dass sie sich dafür selbst bestrafen — mit noch mehr Arbeit und noch mehr Selbsthass. Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Uns ist allen bewusst, dass gerade mit einem Wachstum der sozialen Medien auch solche Vergleiche an Bedeutung gewonnen haben., Sozialisierungsprozesse wie dieser benötigen keine Intention, aber haben einen entsprechenden Effekt. Deshalb plädiere ich hierfür, dass wir es lernen müssen, mit diesem Effekt umzugehen.
Ich möchte hiermit aber keinesfalls sagen, dass Selbstoptimierung per se falsch ist. Ich möchte auch nicht sagen, dass alle Gedanken, die in den Videos geteilt werden, falsch sind. Zu oft habe ich das Gefühl, dass wir versuchen, den Themen und Ideen in unserem Leben mit „richtig“ oder „falsch“ begegnen zu wollen. Doch unsere Welt ist schnelllebig. Und so sind es auch die Standards, an denen wir uns orientieren und die Ideen, die uns beschäftigen. Was heute neu ist, ist morgen vielleicht schon wieder vergessen. Was gibt uns deshalb die Befugnis, pauschal über Veränderungen zu urteilen? Die Dinge lassen sich schon lange nicht mehr in schwarz und weiß einteilen und auch in diesem Fall möchte ich deshalb mit dem Ansatz dran gehen, „that girl“ bunt zu betrachten. Selbstoptimierung ist nicht für jeden und vor allem nicht in jeder Situation geeignet. — dessen musst du dir immer bewusst sein. Es gibt nicht das eine „Erfolgsrezept“, es gibt nicht den einen pauschalen Weg, der für jede und jeden geeignet ist. Wir sind alle Individuen, die selbst lernen müssen, was uns hilft, was uns guttut und wofür es sich zu leben lohnt. Und nur so darf ich auch auf einen vernünftigen Umgang plädieren und dir damit am Ende hoffentlich vor allem eins mitgeben: Lebe. Lebe nach deinen Vorstellungen, nach dem, was dir guttut und habe keine Angst davor, dein eigener Ratgeber zu sein. Nimm dir die Zeit dafür, herauszufinden, was du brauchst und was nicht und höre auf, dich unentwegt schuldig zu fühlen, für eine Person, die du nicht bist. Damit schaffst du es dann, dein Leben zu gestalten. Mit allen Höhen und Tiefen. Damit du nicht „that girl“, sondern glücklich bist.

Tanja Mörstedt studiert Psychologie an der Universität Mannheim und ist seit 2022 Stipendiatin in der Grundförderung.


Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum", die in Kooperation mit der Medienakademie der Begabtenförderung der FNF entstanden ist. Mehr über die liberale Medienakademie könnt ihr über diesen LINK erfahren.