Warum Journalisten mehr Handwerker als Künstler sein müssen. Von Jannica Quaas

Schwerpunkt

 


»Sagen, was ist.« Die berühmten Worte des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein. Silbrig glänzend prangen sie an der Wand in der Eingangshalle des Hamburger Spiegel-Hauses. Vergangenen November habe ich sie dort auf einer Konferenz zum ersten Mal in natura gesehen. Die Inschrift hängt über einer Treppe. Wenn du in die Eingangshalle hineingehst, sticht sie ins Auge. Du blickst zu ihr auf. Wahrscheinlich ist sie das Erste, was Spiegel-Mitarbeiter morgens auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz sehen. Wahrscheinlich war sie das Erste, was Claas Relotius gesehen hat, wenn er morgens zur Arbeit kam.

»Sagen, was ist.« Ein Auftrag, der unsere Kernaufgabe ganz gut beschreibt: Die Welt möglichst abbilden, wie sie ist. Journalisten sollen dokumentieren, überprüfen, nachfragen, einordnen, herausfordern, um Menschen zu informieren und eine freie und vielfältige Meinungsbildung zu ermöglichen. Das ist unsere Aufgabe in der Gesellschaft. Sie ist unter anderem durch unsere Verfassung und die Landespressegesetze geschützt und legitimiert.

Es waren die silbern glänzenden Buchstaben und all das, für was sie stehen, die mir in den Kopf schossen, als ich die Meldung auf Twitter las: Spiegel-Redakteur Claas Relotius hat betrogen. Der junge, preisgekrönte Reporter, einst ein journalistisches Idol, hat seine Geschichten teilweise oder ganz erfunden und gefälscht. Ein Desaster.

Jetzt sind alle geschockt. Die Branche empört. Der Spiegel entsetzt. Ich bin es auch. Vier Semester ist es her, da haben meine Kommilitonen und ich in unserem Seminar Darstellungsformen noch einen Relotius-Text als Musterbeispiel einer Reportage gelesen. Und jetzt kommt heraus: Er hat im großen Stil betrogen, mit viel krimineller Energie und das über Jahre hinweg in den verschiedensten Medien. Nicht nur das Sturmgeschütz deutscher Demokratie ist ihm aufgesessen, auch die Zeit, das SZ-Magazin, die NZZamSonntag und vermutlich noch einige mehr.

Sieben Jahre war er Mitarbeiter beim Spiegel. Knapp 60 Texte hat er für das Medium geschrieben und in einigen von ihnen Fakten mit Fiktion vermischt: »Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut – vieles Fake«, wie der Spiegel selbst am 19. Dezember offenlegte.

Pressekodex, Ziffer 1: »Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.

Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.« Relotius hat diesen Kodex gebrochen, aber warum? Und warum immer wieder und so erfolgreich? Mich beschäftigt das. Statt Schlaf nachzuholen, setze ich mich an meinen Schreibtisch und lese alles nach, was ich zu ihm finden kann, und ich verstehe die Empörung. Ich bin ja auch irgendwie Nachwuchsjournalistin. Dreieinhalb Jahre habe ich Journalismus studiert. Seit einem Jahr mache ich jetzt Magazin- und Nachrichtenbeiträge für das SWR/ARD-Fernsehen, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch dieses System steht unter Kritik. Das ist kein Geheimnis. Wir Mitarbeiter hören und nehmen die Kritik ernst. Unser Umgang mit ihr soll aber nicht Thema dieses Textes sein.

Völlig egal für welches Medium man arbeitet, vom Fall Relotius fühlen sich vermutlich die meisten Journalisten irgendwie betroffen. In Zeiten von Fake News, Rechtspopulismus und europäischen Regierungen, die auf Presse- und Meinungsfreiheit nicht so viel Wert legen und wo der Journalismus teilweise um seine Glaubwürdigkeit und Legitimation kämpfen muss, ist dieser Vorfall mehr als nur Sand im Getriebe. Er ist ein Tiefpunkt in 70 Jahren Spiegel-Geschichte und ein Tiefpunkt für die gesamte Branche. Er erschüttert ein Stück weit unsere Glaubwürdigkeit und die ist das Wichtigste, was wir haben.

»Die ACHTUNG vor der WAHRHEIT, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste GEBOTE der PRESSE.«

Das Schlimme an Relotius‘ Betrug ist für mich, dass er so systematisch erfolgen konnte. Das berühmte Spiegel-Sicherungssystem, berufserfahrene Kollegen, renommierte Jurys, eine ganze Branche – sie alle konnte er täuschen. Der Spiegel ist bekannt für seine Dokumentationsabteilung. Dort verifizieren 60 Dokumentare, zum Beispiel Physiker, Historiker, Biologen oder Islamwissenschaftler, jedes Wort, jede Zahl, jeden Fakt. Dann gibt es im Journalismus zudem immer einen Abnahmeprozess. Nichts wird einfach so veröffentlicht. Es gilt immer mindestens das Vieraugenprinzip. Beim Spiegel überprüfen außerdem der Ressortleiter, der Chefredakteur, Lektoren und Mitarbeiter der Rechtsabteilung den zur Publikation vorgesehenen Text. Wie kann es also sein, dass ein Reporter alle so lange hinters Licht führen konnte?

Das fragt sich jetzt jeder. Der Spiegel versucht, den Fall zu klären. Er hat eine Kommission eingesetzt, die die Schwachstellen im System erkennen und stopfen soll. Ob das jemals ganz möglich sein wird, ist die Frage. Wie der Liberalismus der Eigenverantwortung des Individuums vertraut, müssen auch Medienhäuser und ihre Chefredakteure der Eigenverantwortung ihrer Reporter vertrauen. Das kenne ich auch aus meinem Berufsalltag. Wenn wir recherchieren oder wenn ich – jetzt in meinem Fall als Fernsehjournalistin – mit einem Kamerateam unterwegs bin, ist außer mir kein anderer Journalist aus meiner Redaktion vor Ort. »Der Reporter ist draußen allein«, heißt es immer. Manches, was er mitbringt, kann nur er wissen und dieses subjektive Wissen kann nur schlecht überprüft werden. Das bringt auch Druck mit sich, den man aushalten muss. Vergleichen kann man das sicher mit anderen Berufspraktiken. Druck gibt es überall. Druck hat auch der Arzt am Operationstisch oder der Pilot am Steuer. Der Druck im Journalismus unterscheidet sich, glaube ich, durch seine größere Öffentlichkeit. Wenn Journalisten Fehler machen, sind sie veröffentlicht. Sie sind in der Welt. Das ist auch gut so. Aber im schlimmsten Fall entwickeln sie ein Eigenleben, säen Unwahrheiten und schaden anderen Personen oder Organisationen. Das kommt leider vor – bei Medien, die nach dem Pressekodex und journalistischen Qualitätskriterien arbeiten meist nicht aus böswilliger Absicht, sondern oft aus Zeitdruck und weil auch Journalisten Menschen sind, die Fehler machen.

Claas Relotius ist ein Mensch, der tief reichende Fehlentscheidungen getroffen hat. Und was mir bei der ganzen Empörung, die ich auf sozialen Medien gelesen habe, vor allem durch den Kopf geht, ist, was Relotius wohl angetrieben hat. Wieso hat sich der Mensch Relotius jahrelang bei fast jedem Text diesem hirnrissigen Risiko ausgesetzt entdeckt zu werden? Wieso hat er nicht vor Angst geschlottert? Wie hat er die zahlreichen Preise und Laudationen mit einem Lächeln entgegennehmen können?

Ullrich Fichtner – eigentlich designierter Spiegel-Chefredakteur, jetzt erst einmal nicht mehr – zitiert Relotius in dem Artikel »SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen« so: »Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern. Mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde.«

Das weist auf ein Problem hin, das tiefer reicht als Relotius kriminelle Energie. Die Journalistin Annette Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung hat das in ihrem Kommentar »Journalisten müssen der Wahrheit dienen, nicht dem eigenen Ruhm« auf den Punkt gebracht: Relotius‘ Rechtfertigung ist für mich gleichzeitig Kritik an einem Journalismus, der die beste, schnellste und exklusivste Story will. Kritik an einem Journalismus, der Geschichten einkauft, die sich kein Schriftsteller und kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Es ist im Fall Relotius schon fast bizarr, dass ausgerechnet auch Rudolf Augstein gesagt hat: »Ich glaube, dass ein leidenschaftlicher Journalist kaum einen Artikel schreiben kann, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen.« Keine Ahnung, ob Relotius dieses Zitat kennt. Aber wahrscheinlich hat er es wörtlicher genommen, als jenes, das schillernd im Spiegel-Haus an der Wand prangt.

Im Journalismus geht es nicht um die schillerndsten Geschichten. Wenn man »Reporterglück« hat und sie findet, ist das schön und umso besser für seine Rezipienten. Aber Journalisten sind keine Künstler. Sie sind Handwerker, deren Aufgabe es nicht ist zu glänzen, sondern ein Bild von der Welt zusammenzusetzen, das der Realität möglichst nahekommt. Daran erinnert uns hoffentlich der Fall Relotius. »Sagen, was ist.« Das ist unser Auftrag. Und auf den müssen wir uns besinnen.

 

freiraum #61