Über Proteste, die Jugend und Demokratie. Maximilian Sepp im Gespräch mit Julia Zilles.

Interview

 


freiraum: Wenn man den Plural „Könige von Deutschland“ benutzt, müssen damit doch in einer Demokratie die Bürger gemeint sein, die als Gesellschaft ihren Willen neben Wahlen durch Demonstrationen und Proteste äußern. Würden Sie da mitgehen?

Julia Zilles: Der Titel „Könige von Deutschland“ liegt nicht besonders nahe, wenn man über Proteste nachdenkt, aber natürlich ist Deutschland ein demokratischer Staat, indem zwei zentrale Elemente Wahlen und Proteste sind, um den Bürgerwillen innerhalb des repräsentativen Systems zum Ausdruck zu bringen.

Bleiben wir in diesem Bild: Wenn die Könige die Bürger sind, kann man die Politiker dann auch als Diener des Volkes betrachten?

Ich tue mich schwer damit, die Bürger*innen einer Demokratie als Könige und Königinnen zu bezeichnen. Der Begriff kommt aus monarchistischen Systemen und die Demokratie als Herrschaft des Volkes ist das genaue Gegenmodell dazu. Wenn man zum Beispiel an die Französische Revolution denkt, war das ja genau der Moment, in dem man sagte: „Wir wollen dieses alte System überwinden, weil wir alle gleich sind. Wir wollen mit gleichwertiger Stimme sprechen und gerade nicht diese eine Person haben, die über unsere Köpfe hinweg entscheidet.“ Es zeichnet Protestbewegungen auch grundsätzlich aus, flache Hierarchien zu haben und das Bestreben, gemeinsam für ein Ziel zu kämpfen. Das widerspricht dem Bild des Monarchen oder der Monarchin als Person, die alleine an der Spitze steht.

Wann und wie hat es in Deutschland angefangen, dass Bürger auf die Straße gegangen sind, um für ihre Rechte zu protestieren?

Die Arbeiterbewegung war die erste Massenbewegung in Deutschland, im späten Kaiserreich. Daran eng gekoppelt war die Entstehung der Parteien; zum Beispiel der SPD, die sich im 19. Jahrhundert aus der Arbeiterbewegung gründete. Von einer Protestbewegung oder einer sozialen Bewegung im eigentlichen Sinne würde man allerdings erst später sprechen. Hier sind besonders die 68er-Bewegung und die neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre, zum Beispiel die Friedensbewegung oder die Umweltbewegung, zu nennen, aus denen sich wiederum eine neue Partei entwickelte, nämlich Die Grünen.

In den vergangenen Jahren wurde von verschiedenen Seiten behauptet, die Jugend sei unpolitisch geworden und nicht mehr willens, auf die Straße zu gehen. In der jüngsten Vergangenheit ist das Gegenteil zu sehen: Demonstrationen für Klimaschutz und Urheberrecht oder gegen Rassismus sind sehr häufig von Jugendlichen organisiert. Woher kommt dieser Umschwung?

Ich glaube, es war nie mehr als eine Zuschreibung, dass die Jugend unpolitisch sei. Besonders mit Blick auf die großen Volksparteien, bei denen aus Nachwuchsproblemen ein generelles Problem der Politikverdrossenheit geschlossen wurde. Meiner Meinung nach hat das nie ganz gestimmt. Viele junge Menschen sind grundsätzlich sehr politisch, aber wollen sich nicht mehr auf die etablierten Parteistrukturen festlegen und längerfristig binden. Sie engagieren sich eher lokal und/oder online für spezielle Themenbereiche, ohne die klassische Organisationsstruktur politischer Parteien zu wählen. Diese politisch interessierten Menschen sind leicht mobilisierbar, wenn es um Entscheidungen geht, die sie selbst direkt betreffen. Damit es zu größeren Protestmobilisierungen kommt, dienen häufig bestimmte Ereignisse als sogenannte Gelegenheitsstrukturen. Demonstrationen sind kein Selbstzweck, es braucht immer einen Anlass, der die Leute genügend bewegt, um sie auf die Straße zu bringen.

Gab es vielleicht zeitweise in Deutschland einfach zu wenig zu kritisieren? Anders gefragt: Ging es den Leuten zu gut, um auf die Straße zu gehen?

Es gab keine Zeiten, in denen es gar keine Protestäußerungen gab. Es sind Wellenbewegungen zu erkennen, da zu bestimmten Themen Demonstrationsereignisse vermehrt auftreten. Aber selbst wenn es zeitweise weniger Demonstrationen gibt, heißt das nicht, dass es der gesamten Gesellschaft gut geht. Es gibt immer Gruppen, die nicht zufrieden sind. Es muss ein gewisser Grad an Unzufriedenheit an den bestehenden Verhältnissen überschritten sein, um demonstrieren zu gehen.

Sie haben gesagt, die Jugend war schon immer politisch. Glauben Sie, der Grad der politischen Aktionsbereitschaft bleibt über Generationen gleich oder verändert er sich mit der Zeit?

Pauschal lässt sich diese Frage schwer beantworten. Die Politisierung äußert sich auf verschiedene Arten: Durch die reine Information und Meinungsbildung, durch Wahlen oder eben Demonstrationen, die Teilhabe an sozialen Bewegungen oder Protesten. Es gibt also verschiedene Arten der Äußerung politischen Interesses in unterschiedlichen Aktivitätsgraden.

Das heißt, die Gesamtbevölkerung in Deutschland ist Ihrer Meinung nach nicht mehr oder weniger politisch, als in früheren Generationen?

Es ist natürlich keine Konstante – Schwankungen gibt es immer. Diese Schwankungen sind aber sicherlich nicht so stark, wie man aufgrund der eben genannten Äußerungen denken könnte.

Welche Aussagekraft haben Demonstrationen überhaupt? Drücken sie den Volkswillen aus oder sind auf Demonstrationen vielleicht auch manchmal nur die, die am lautesten schreien?

Als repräsentativen Willen des Volkes kann man sicher Demonstrationen nicht pauschal fassen. Es handelt sich ja nicht um eine repräsentative Bevölkerungsumfrage, sondern um eine expressive Meinungsäußerung einer bestimmten Menge an Bürger*innen. Die Menschen, die sich dort engagieren, sind auch nicht direkt demokratisch legitimiert, zum Beispiel durch Wahlen. Aber gerade für Anliegen, die nicht im Mainstream der politischen Auseinandersetzung liegen, bieten Protestereignisse eine wichtige Artikulationsmöglichkeit.

Welche Bedeutung haben Demonstrationen und Proteste für eine Demokratie, besonders auch in der aktuellen Zeit, in der demokratische Grundwerte angegriffen werden?

Es ist ein ganz elementares Grundrecht: Freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. In einer Demokratie sollte jeder Mensch das Recht haben, seine Meinung kundzutun und sich dafür auch zu versammeln oder zu gruppieren. In einer repräsentativen Demokratie, die über Wahlen organisiert ist, wirken Proteste und Demonstrationen als Kontrollinstanz. Sie sind ein tragender Pfeiler der Demokratie.

Zur Person

Julia Zilles hat an der Universität Koblenz/Landau Politikwissenschaften, Germanistik und Philosophie studiert und promoviert aktuell in Göttingen am Institut für Demokratieforschung.

freiraum #62