Von politischer Langeweile und warum Respekt und Toleranz zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Von Pia Döring

Schwerpunkt

 


Über Politik zu reden, ist langweilig. In London kann man den Brexit-Diskussionen nicht entkommen – in Deutschland auch nicht. „Wie ist die Stimmung da drüben?“ „Hast du schon dosenweise Bohnen gekauft?“ „Wer stimmt denn für sowas? Kennst du jemanden?“ Und natürlich: „Wie kann man eigentlich so blöd sein?“ Ganz zu schweigen von Vorträgen über Wertesysteme, globale Herausforderungen und die britische Wirtschaft – die werden schon sehen, was sie davon haben. Was soll man da noch sagen – es ist politisch kurzsichtig, wirtschaftlich suboptimal und kulturell verklärt.

Über die EU zu reden, ist auch nicht spannend. Populisten auf dem Vormarsch, Mitgliedsstaaten, die die freie Presse untergraben, EU-Gelder, die in korrupten Strukturen versumpfen, Menschen, die einfach nicht verstehen, was die EU gebracht hat, bedeutet, bedeuten könnte. Wie kann man so ein Projekt einfach wegwerfen, weil einem das eigene Dorf eben besser gefällt: Wiesenidylle und RTL statt Werteunion, Schengen-Raum, Binnenmarkt, Frieden. Ja, es könnte besser laufen: Das Parlament braucht ein Initiativrecht, die EU mehr Transparenz oder weniger Bürokratie. Aber es wird, wir haben doch Visionen, vorwärts, das Projekt Europa darf keiner wegwerfen.

Diskussionen über die deutsche Parteienlandschaft sind spannungsarm. Rechtspopulisten in Deutschland, ausgerechnet in Deutschland. Konsens der Analyse: Die AfD ist vor allem Protestpartei. Der Forschungsgruppe Wahlen zufolge war bei der Bundestagswahl 2017 nur jeder Dritte ihrer Wähler auch tatsächlich vom Programm überzeugt. Verstrickt in Skandale, Rechtsrhetorik, Spendenaffären. Die Weltsicht („die Flüchtlinge sind schuld“) ist viel zu einfach, so ist das ja bei Populisten. Der Fehler liegt bei den Altparteien, in der politischen Kultur merkelscher Alternativlosigkeit, und bei den Leuten, die sich die Welt, die sich das Leben viel zu leicht machen.

Wer wählt eigentlich die AfD? Wer verachtet eigentlich die EU? Und wer, bitte wer, dachte, für den Brexit zu stimmen, wäre eine gute Idee? Wenn diese Frage im Raum steht, dann setzt das empathische Nicken ein, Handgesten, die Bedauern ausdrücken und auch ein bisschen Mitleid, es steht fest: vornehmlich Menschen der sozialen, ökonomischen, politischen oder geographischen Peripherie. Die Abgehängten. Die, die es nicht besser wissen, es nicht besser wissen wollen, oder denken, es besser zu wissen.

Über Politik zu reden ist langweilig, weil diese Analyse so offensichtlich ist. Politischer Smalltalk hatte schon immer eine prominente Stellung inne, weil Politik eben nicht an einem vorbeizieht, weil Carol Hanischs „the personal is political“ immer noch gilt – und das nicht nur für Feministen. Politischer Smalltalk hat sogar seine eigene Verschmelzung: „Polittalk“. Ob es an dieser Verschmelzung oder am Halbanglizismus liegt, „Polittalk“ besitzt eine Leichtigkeit, die sich in seiner Analysetiefe widerspiegelt. Polittalk ist ein fester Bestandteil des Soziallebens: vor dem Vorlesungsraum, im Vorlesungsraum, in der WG, in Bars, bei der Arbeit. Die Diskussionsstruktur in meinen Kreisen folgt der oben beschriebenen Linie: Problemstellung – Widerlegung – Synthese (wer erkennt nur das Problem, aber nicht die Lösung?). Resultat: Es sind die Abgehängten. Natürlich treffen sie die falsche Entscheidung, das könne man ganz objektiv beurteilen, aber es gehe eben auch um komplexe Sachverhalte und, zugegeben, manche Leute seien wirtschaftlich und sozial benachteiligt, da könne man verstehen, dass sich Wut anstaue. Aber Populismus löse das Problem auch nicht, und diese Entscheidungen blieben im Kern falsch.

Abgehängt. Dieses Wort bedarf genauerer Untersuchung: Laut Duden bedeutet abhängen „jemanden abschütteln/ hinter sich lassen“. Die Gesellschaft bewegt sich schneller als die Gesamtheit ihrer Mitglieder. Wer nicht Schritt hält, wird unwillkürlich abgehängt. Das Tempo in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist rasant, die Schlussfolgerungen intuitiv. Aber abhängen hat eine weitere Bedeutung: „Jemanden loswerden/ die Bindung zu ihm lösen“. Polittalk tut genau das: Die Schlussfolgerung, dass die Abgehängten einer Gesellschaft Entscheidungen treffen, die irrational, dumm oder schlichtweg faul sind, koppelt die Menschen, über die man da spricht, überhaupt erst vom Diskurs ab – ganz egal, mit wie viel Empathie und Verständnis man das ausdrückt. Diese Bevormundung löst das Problem der Spaltung der Gesellschaft nicht, sondern treibt ebendiese voran. Es bleibt die Frage: wer hängt ab? Das Gegenstück zu den Abgehängten ist nicht der Durchschnitt der Gesellschaft – da gehören sie dazu. Es sind Eliten.

Gerstetten: Neulich beim Geburtstag einer Freundin, mit der ich bis zur neunten Klasse in die Schule ging. Zur zehnten Klasse wechselte ich das Gymnasium, wir machten beide 2017 Abitur. Wir haben die gleiche Ausbildung, ich zog nach London, sie blieb in ihrem Heimatdorf. Zu viert sitzen wir am Tisch. „Wählt ihr bei der Europawahl?“ Verwirrtes Schweigen. Wann die sei. Was man da wählen könne. Eigentlich sei es egal. Aber man muss sich doch beteiligen! Nein, das müsse man überhaupt nicht.

Berlin: zu Besuch bei einer Freundin, die selbstständig als Violinistin arbeitet. Man hat sich lange nicht gesehen, das Gespräch dreht sich um Persönliches und irgendwann um Politik. Ich bin Liberale, das sei manchmal gar nicht so leicht zu verteidigen, aber immerhin leichter, als heutzutage AfD zu wählen. Das sei ja auch wirklich kein Lösungsansatz für irgendwas. Schweigen. Das war ein Fettnäpfchen: ihr Verlobter wählt AfD.

Nichts davon hatte ich erwartet und beides ist mir schon mehrmals passiert. Es passiert, wenn ich die Blase, in der ich lebe, verlasse, ohne es zu merken. Keine Expedition nach Görlitz oder Meißen (beides Wahlkreise, die die AfD 2017 gewonnen hat). Sondern einfach weg von meiner „politischen“ Uni, meinen „politischen“ Freunden, meinen „politischen“ Kreisen. „Die Abgehängten“ sind nicht das abstrakte Konzept, das wir in den Diskussionen mobilisieren, nicht notwendigerweise die, die am Rande der Gesellschaft vegetieren. Die meisten sind nicht per se abgehängt – wir hängen sie ab, so, wie ich fast meine Freunde abgehängt habe. Das macht die Sprecher zur Elite, und die Besprochenen zu Abgehängten.

Liberalismus hat es schwer damit. Meiner zerreißt zwischen der Doktrin des Fortschrittes, von der Richtigkeit liberaler Werte und Gesellschaftsmodelle einerseits, und der Voraussetzung von Pluralität und Respekt für anderer Leute Ansichten andererseits. Diese Spannung zu lösen, ist eigentlich Aufgabe der Politik, verstanden als Wettbewerb der rationalen Argumente. Das setzt allerdings mehr voraus, als die Erkenntnis, dass irgendwer irgendwo andere Meinungen vertritt als man selbst Es setzt mehr voraus, als einen Verweis auf „die Abgehängten“, die es nicht besser wissen (wollen). Politik ist Diskurs, Diskurs ist Sprache, Sprache schafft Struktur: Deswegen ist es essenziell, den Ton der Bevormundung loszuwerden. Wann sind die Meinungen und Prioritäten anderer Leute mein Smalltalk-Thema geworden? Wann sind sie das Smalltalk-Thema ganzer Gruppen geworden? So über Politik zu reden, ist nicht nur langweilig, weil die Analyse sich im Kreis dreht. Es ist eigentlich gar kein „über Politik reden“ mehr. Es ist Politik auf andere Leute Draufreden – und das ist weder ein Wettbewerb, noch politisch, noch liberal.

Was ist die Lösung dieses Dilemmas? Jeder hat seine Meinung, und dabei bleibt es, egal, wie verstörend diese Meinung auf andere wirkt? Es ist die alte Frage der Toleranz – wie viel davon kann sich eine liberale Gesellschaft leisten, wie viel muss sie sich leisten? Natürlich ist die Lösung nicht, im Fatalismus zu versinken, Populismus als gegeben hinzunehmen und Rechts- oder Linksradikalismus zu normalisieren, weder als Gedankengut noch in Aktion. Denn es existiert ein Unterschied zwischen der Erkenntnis, dass Respekt und Anerkennung des freien Willens und des Rechts auf Meinung eines jeden Menschen unantastbar sein müssen, und der falschen Schlussfolgerung, dass das bedeutet, jeden Ausdruck solcher Freiheit zu tolerieren. AfD-Wähler machen mich meistens wütend, Leute, die ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen, auch, und die, die im Pub Hymnen auf ein angeblich freieres Großbritannien grölen, sowieso. „You are not entitled to your opinion. You are entitled to your informed opinion. No one is entitled to be ignorant.“ – das hat der amerikanische Kritiker Harlan Ellison vertreten. Das wäre schön, stellt einen jedoch vor ein neues Problem: Informationskategorien. Ja, manche Fakten sind richtiger als andere. Aber niemandes Recht auf freien Willen und Gedankenbildung ist richtiger als ein anderes. Letzteren das Existenzrecht abzusprechen, führt nur in eine Blase: Mit was führt man einen politischen Wettbewerb, wenn es von Anfang an nur eine Position geben darf?
Diese Blase, in der Smalltalk Polittalk ist, in der die Analyse selbst Menschen abhängt, produziert ihre Mitglieder als Teil der Elite, die sie eigentlich nicht sein wollten. Eigentlich wollte man anerkennen, dass Menschen sich abgehängt fühlen, und plötzlich hängt man selbst sie ab. Über Politik zu reden, ist natürlich nicht langweilig – es passiert schlichtweg viel zu selten. Nur, wenn man erkennt, dass Respekt und Toleranz zwei verschiedene Dinge sind, kann der liberale Wettbewerb der Ideen wieder stattfinden. Nur, wenn man erkennt, dass Respekt und Toleranz zwei verschiedene Dinge sind, kann man wieder anfangen, über Politik zu reden, und nur dann kann man verhindern, dass man sich selbst aus Versehen zum Teil einer Elite macht, die den Rest der Gesellschaft abhängt. 

Zur Autorin

Pia Döring studiert War Studies in London. Sie ist seit 2018 in der Grundförderung der FNF.

freiraum #62