Von unterbewussten Weltbildern und verkürzter Antikapitalismuskritik. Von Moritz Meier

Schwerpunkt

 


„Wer leitet eigentlich die Geschicke in Deutschland?“ So lautet eine der verlockenden Leitfragen dieser Ausgabe. Dem eine klare Antwort zu entgegnen und die Akteure und Strippenzieher*innen persönlich benennen zu können, ist ein tief im Unterbewusstsein verwurzeltes Bedürfnis, für das die Befriedigung allein durch das Stellen der Frage zum Greifen nah zu sein scheint. Schließlich sucht die Politik stets sehr bemüht nach Antworten auf Fragen und Probleme, welche die Gesellschaft aufwirft. In Kombination mit Hashtags wie „Eliten“, „Banken“, „Einfluss“ und „Machtverhältnisse“, die auch der Anregung der Kreativität der Autor*innen für diese Ausgabe dienen sollten, wird so ein tieferer Einblick in die europäische Sozialisation gegeben, als auf den ersten Blick auffällt: Schon längst ist während des Lesens dieser Zeilen das Bild der Weltbanken, welche die Staaten in ihrem Geiz und ihrer Gier fest in ihren Klauen haben und alles kontrollieren, vor unserem geistigen Auge. Diese alte Weltanschauung ist nicht nur der breiten Masse und Mitte, sondern in besonderer Weise den Königen von Deutschland öfter Freund und Partner gewesen.

Natürlich, Kapitalismuskritik muss doch erlaubt sein! Besonders für Liberale, die im deutschen Kontext nicht immer für martkwirtschaftskritische Positionen berüchtigt sind, sollte die Reflexion eines Systems, das zu einem großen Teil auf ökonomische Faktoren ausgerichtet ist, unbedingt dazugehören, auch wenn das sonst ja eher Aufgabe der politischen Linken zu sein scheint. Als Liberale haben wir aber auch ein besonderes Ohr für eben solche Kritik. Oft erscheint sie uns als vereinfacht, populistisch, verkürzt. Von verkürzter Kapitalismuskritik oder auch verkürzter Elitenkritik spricht man, wenn die Kritik personifiziert wird, also konkret Personen oder Gruppen ausgemacht werden sollen – zum Beispiel „Meinungsmacher“, „Agenda-Setter“ oder eben die „Könige von Deutschland“. Das verkürzt den Kapitalismus insofern, als ein marktwirtschaftliches System eben nicht nur auf „geheimen Machtstrukturen“ oder einem Zirkel von wenigen Bankern aufbaut, die in ihrem Hinterzimmer die Strippen ziehen, sondern mitunter auf dem homo oeconomicus: Gesellschaften im Ganzen sichern tagtäglich das Bestehen dieses Systems. Die Frage, die eine reflektierte Kapitalismuskritik stellen würde, wäre jene nach dem „Wie?“ oder „Wodurch?“, nicht „Wer genau?“. Die „Angst vor dem Abstrakten“ (Samuel Salzborn) hingegen, also vor dem Unbekannten, verleitet zur Personifizierung.

„Das Hauptthema der geschichtlichen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts ist die Frage nach Wesen und Entstehung des Kapitalismus“, schrieb ein gewisser Friedrich Naumann 1911. Tatsächlich versuchten viele Geisteswissenschaftler*innen des 19. und 20. Jahrhunderts eben jenes Wesen zu analysieren und auszumachen. Noch im selben Jahr wagte sich so auch Werner Sombart an sein Werk „Die Juden und das Wirtschaftsleben“, nachdem er „ganz durch Zufall auf das Judenproblem gestoßen“ sei. Er war nicht der einzige, dessen Analyse zufällig auf das eine Ziel hinauslief, etwa auf die Rothschilds oder das „Finanzjudentum“, das sämtliche Macht an sich gerissen hätte. Der Theologieprofessor August Rohling wusste schon 40 Jahre früher, dass die Juden „die Könige des Kapitals, die Fürsten des Handels“ und „die Beherrscher der Presse“ seien. Eine namhafte sowjetische Zeitung schrieb 1967, dass „der Zionismus […] ein unsichtbares, aber riesiges und mächtiges Imperium von Finanzmännern und Industrialisten“ sei. Der Kritiker des Kapitals schlechthin, der letztes Jahr seinen 200. Geburtstag feierte, setzte Judentum und Geldwirtschaft ebenfalls in eine direkte Verbindung. Berühmt ist auch aus dem „Stürmer“ die Karikatur der jüdischen Krake, die die Welt in ihren Tentakeln hält. Marx ist natürlich nicht auf eine Stufe mit dem „Stürmer“ zu stellen. Trotzdem ähneln sich die Bilder sehr: Kapital, Macht und Konspiration machen einen großen Teil des klassischen Antisemitismus aus. Man muss nicht lange suchen und es wäre müßig, etliche weitere historische Beispiele aus den unterschiedlichsten Richtungen dafür zu finden und aufzuzeigen.

Heute ist das selbstverständlich anders, nach Auschwitz und der Entnazifizierung kann es in Deutschland diesen Antisemitismus und auch keine Antisemit*innen mehr geben, allerhöchstens in der AfD, bei den Identitären oder den Islamisten. Dass besonders Mark Zuckerberg und George Soros wieder Angriffsmotive für demokratische und tolerante Bürger*innen mit Ängsten vor Machtkonzentration darstellen und beide jüdisch sind, muss einer dieser Zufälle sein. Ebenso, dass TTIP-Gegner*innen wieder die Karikatur der Krake mit US-amerikanischem Hut benutzen.

„Moment mal“, sagt der*die aufmerksame Leser*in jetzt vielleicht. „Damit setzt du die USA mit Jüd*innen gleich!“. Nein, das tue ich nicht. Natürlich hat die Anti-TTIP-Krake von Dieter Hanitzsch keinen Davidstern mehr auf dem Kopf. Auch wenn weitere Karikaturen von ihm eher dagegensprechen, könnte es sogar sein, dass Herr Hanitzsch nicht eine Sekunde an Judentum gedacht hat, während er diese zeichnete. Nicht schlimm. Die Methoden, Vorgehensweisen und Strukturen im Hinblick auf Macht, Konspiration und Personifizierung innerhalb der verkürzten Eliten- und Kapitalismuskritik ähneln der des klassischen Antisemitismus von Rohling und Sombart so stark, dass man von strukturellem Antisemitismus spricht, selbst wenn nichts Jüdisches angegriffen oder benannt wird oder das nicht einmal die Absicht war. Verkürzte Kapitalismuskritik ist deswegen immer mindestens strukturell antisemitisch. Außerdem sind es am Ende dann doch wieder zu häufig die Zuckerbergs und Soros dieser Welt, die sich als Dartscheibe besonders gut zu eignen scheinen. Zufällig.

Zufall wohl auch, dass 2019 die Begrifflichkeiten des Artikelaufrufs eines Stipendiat*innenmagazins so sehr denen eines August Rohlings ähneln. Es wird nach den „Könige[n] von Deutschland“, „geheimen Machtstrukturen“, „im Verborgenen Operierenden“, den „wahren Entscheidern“, „Meinungsmacher[n]“ und „Agenda-Setter[n]“ gefragt, die Richtung mit „#Eliten #Banken #Machtverhältnisse #Einfluss“ vorgegeben. Nein, ich erhebe keine Keule, bin mir des Einflusses von Lobbyist*innen bewusst und möchte auch niemandem vorwerfen, bewusst antisemitisch zu agieren! Eher muss ich verteidigen. Denn diese (Welt-)Bilder, die einen assoziativ antisemitischen Ursprung haben, sind tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Sie wurden über Jahrhunderte tradiert und von Generation zu Generation auf verschiedenste Wege reproduziert und weitergegeben. Stichwort: sozio-kulturelles Gedächtnis. Der Antisemitismus ist spätestens seit dem Mittelalter eine feste „Konstante der abendländischen Kultur“ (Broder, 1986).

Bevor wir jetzt in kollektive Panik verfallen („Aber ich bin doch aufgeklärt und kein*e Antisemit*in?“) – abgesehen davon, dass sich nach Auschwitz niemand mehr so bezeichnen würde (davor gab es in Deutschland zum Beispiel so nette, öffentlich anerkannte Vereine wie die „Antisemiten-Liga“), sind tatsächlich die wenigsten heute antisemitisch ideologisiert, als Beispiel für eine antisemitisch ideologisierte Gruppe mögen die Neonazis hier nochmal den Kopf hinhalten dürfen. Anstatt dessen läuft das meiste unterbewusst und wahrscheinlich (hoffentlich) auch unbeabsichtigt ab. Das trifft mit Sicherheit auch auf den Artikelaufruf für diese Ausgabe zu und würde vielleicht auch erklären, warum sich so unterschiedliche Gruppen (Linke und Rechte, Religiöse und Religionskritiker, weiß-christlich und arabisch Sozialisierte) beim Antisemitismus treffen. Eine empirische Untersuchung belegt, dass insgesamt 20 Prozent der deutschen Gesellschaft starke antisemitische Weltbilder und Ressentiments bejahen und 50 Prozent „zumindest Reste antisemitischer Einstellungen aufweisen lassen“. Die Silbermann-Studie ist aus den 70er Jahren. Das schmälert nicht das Ergebnis, im Gegenteil, gerade erst 30 Jahre nach der Schoah hätte man im NS-Nachfolgestaat ein anderes Ergebnis erzielen müssen und ich möchte stark bezweifeln, dass sich durch ’89 bzw. durch den Gesellschaftswandel seit den 70ern in der Richtung etwas zum Positiven gewandelt haben sollte.

Was aber folgt daraus? Man kann das einsehen oder es lassen, aber, und ich schätze, dass ich spätestens an diesem Punkt einige liberale Gemüter in Wallung bringen werde, es gibt zu (strukturellem) Antisemitismus keine andere „Meinung“ und auch keine „Diskussion“. Auch im Angesicht eines immer offener und offensichtlicher zu Tage tretendem Antisemitismus, der gegenwärtig sehr wohl häufig arabisch, aber mindestens genauso sehr deutsch geprägt ist, sollte das Minimalkonsens von Demokrat*innen sein. Besonders gefährlich wird es weiterhin, wenn man anfängt, ganze Kollektive aufgrund einer politischen Ausrichtung, egal ob Sozialdemokrat*innen oder die Leserschaft des freiraum, egal, wie sehr man sich auf der toleranten, liberalen und ach so weltoffenen Seite sieht, von antisemitischen Ressentiments, Weltanschauungen und Stereotypen, aber auch von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, freizusprechen. Niemand kann objektiv sich selbst und schon gar nicht ganze Gruppen aus den nun bekannten Gründen vollkommen entlasten. Ein Anfang wäre es, im Bewusstsein der eigenen Sozialisation und Kultur derartige Gedanken und Impulse zumindest zu reflektieren. Diese alten Weltbilder sollen den zukünftigen König*innen von Deutschland nicht schon wieder Pate stehen. 

Zum Autor

Moritz Meier studiert Geschichts- und Sozialwissenschaften mit Lehramtsoption in Bielefeld. Seit 2018 ist er in der Grundförderung der FNF.

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