...nur die Richtung ist unklar. Von Martin Thoma

Fachkreise

 


Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist ein enorm breites Themenfeld, und obwohl hier ein tiefes Expertenwissen und Verständnis für die inhaltliche Diskussion notwendig sind, betrifft diese Entwicklung jeden Einzelnen von uns – egal ob Experte, Laie oder schlicht interessierter Bürger. Der Fachkreis Gesundheit desVSAhat sich daher die Aufgabe gestellt, das Thema in den Vordergrund zur rücken. Ergebnis war im April das Seminar mit dem Titel „Der digitale User zwischen Tele-Doc und Chipkarte“, welches in Kooperation mit der FNF in der Theodor-Heuss-Akademie stattfand.

Neben der grundsätzlichen Wissensvermittlung durch Experten des Bundesverband Gesundheits-IT und HL7 (einer Organisation, die Standards im Gesundheitswesen entwickelt), war der Streit um die politische Verantwortung des Ausbaus der Telematikinfrastruktur (TI) in der Podiumsdiskussion zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Zentrum für Telematik und Telemedizin NRW (ZTG) als Höhepunkt zu werten.

Zwischen Rainer Höfer als Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen und somit der Selbstverwaltung und Rainer Beckers vom ZTG als staatliche Koordinierungsstelle herrschte zunächst Einigkeit in der Bewertung des Status quo. Ja, es gab Verzögerungen im Ausbau der Telematikinfrastruktur und ja, nach über 15 Jahren und fast zwei Milliarden Euro müsste das digitale Gesundheitswesen auf einem wesentlich höheren Level stehen. Doch zur Wahrheit gehört, dass 140.000 Arztpraxen an eine vollkommen neue Infrastruktur angeschlossen werden müssen. Bisher wurden 70.000 Praxen versorgt. Der Aufwand ist also enorm und die Aufgabe, eine der sichersten Grundlagen für den Austausch höchstsensibler Daten zu legen, darf vor allem im Aufbau nicht unterschätzt oder überstürzt werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich die wesentlichen Akteure in der Diskussion jahrelang gegenseitig in der Frage um den richtigen Weg blockiert haben. Der Austragungsort dieser Grabenkämpfe war die Gesellschaft für Telematik-Anwendungen der Gesundheitskarte mbH, kurz Gematik.

Die Gematik wurde im Januar 2005 von den Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens gegründet und soll seitdem die elektronische Gesundheitskarte (eGK) und ihrer Infrastruktur in Deutschland vorantreiben sowie die Interoperabilität der beteiligten Komponenten sicherstellen. Bis März 2019 lag die Mehrheit der Anteile an dieser Gesellschaft beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, weshalb auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Kritik an der Selbstverwaltung gern den gesetzlichen Krankenkassen den Schwarzen Peter zuschiebt.

Da Herr Spahn bekanntlich ein sehr unruhiger Minister ist und den Blick stärker auf Termine, Fristen und Ergebnisse statt auf Forschung und Entwicklung setzt, hat er im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) den GKV-Spitzenverband enteignet und die Mehrheitsanteile der Gematik in das Bundesministerium für Gesundheit gelegt. Darüber hinaus hat er das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, welches die strengen Richtlinien zum Datenschutz vorgibt, zum Zaungast degradiert. Nun liegt das Heft des Handelns in den Händen des Staates. Als Liberaler würde man in erster Linie die Nase rümpfen und fragen, ob der Staat es „besser kann“. Andererseits ist die Bereitstellung einer grundlegenden Infrastruktur mit festen Regeln und Standards, sei es bei Strom, Wasser oder eben Daten durch den Staat aus ordoliberaler Sichtweise durchaus vertretbar.

Vor diesem Hintergrund wird zwar sichtbar, dass das gesamte Themenfeld wesentlich stärker in Bewegung kommt, doch ob Aktionismus und der Fokus auf Termine und Fristen am Ende der Datensicherheit zuträglich ist und die Akzeptanz von Systemen und Anwendungen bei Ärzten und Patienten fördert, sei kritisch dahingestellt. Ein liberaler Lichtblick ist jedoch die Forderung nach mehr Wettbewerb, wenn es beispielsweise um die elektronische Patientenakte (ePA) geht. Grundlegend fördert der Wettbewerb den Kampf um die beste Anwendung, fördert Innovationen und gibt schließlich den Versicherten eine breitere Auswahl.

Der Datenschutz spielt nicht nur für Liberale eine wesentliche Rolle, sondern gilt auch als Querschnittsthema im gesamten Feld des digitalisierten Gesundheitswesens. Egal ob wir über Anwendungen der Telematikinfrastruktur sprechen, den Ort oder die Art und Weise des Datenspeichers diskutieren oder unsere Gesundheitsakte über Apps mit Daten speisen. Doch wo die Telematikinfrastruktur als sicherste Datenautobahn und – nach Herrn Höfer – als „deutsche Ingenieurskunst“ gilt, sind laut den Experten auf dem Podium Smartphone Apps äußerst anfällig und leicht „hackbar“. Bewiesen hat das auch der Chaos Computer Club, der in einem 60-minütigen YouTube Video die elektronische Gesundheitsakte Vivy geknackt hat. Standards in der Datensicherheit sollten also eine größere Rolle spielen, als das Einhalten von Fristen eines unruhigen Ministers. Nichts ist nach dem Ausrollen eines Systems mit Blick auf Akzeptanz und Nutzung wichtiger, als das Vertrauen in dessenSicherheit. Wenn eine elektronische Patientenakte mit strukturierten Daten unser Gesundheitswesen revolutionieren soll, braucht es eben dieses Vertrauen.

Um die Positionen der einzelnen Akteure im Gesundheitswesen zu verstehen, wurden innerhalb des Workshops die Ansichten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des GKV-Spitzenverbandes, des Bundesverbandes Gesundheits-IT und des Bundesministeriums für Gesundheit herausgearbeitet und diskutiert. Wenig überraschend war dabei die generelle Forderung, „alles schneller und besser“ bereitzustellen. Überraschender jedoch schien die Einigkeit, das Fernbehandlungsverbot zu überwinden und somit die Telemedizin zu etablieren. Selbst die Kostenträger sehen es in ihren öffentlich-zugänglichen Positionen als notwendig an, telemedizinische Leistungen zu vergüten. Ob dies in den Hinterzimmern des gemeinsamen Bundesausschuss dann immer noch so gesehen wird, bleibt abzuwarten. Ebenfalls ist die Einigkeit über die Notwendigkeit international anerkannter offener Standards zur Förderung semantischer und syntaktischer Interoperabilität als sehr erfreulich zu bewerten. Damit hat die elektronische Patientenakte (ePA) die Chance mehr zu sein als eine Halde für Rezepte im PDF-Format, Arztbriefe in WORD-Dateien und JPEG-Befunde aus der Radiologie. Nur mit strukturierten Daten kann sinnvoll in Forschung und Entwicklung gearbeitet und der volle Umfang an Innovationen im Gesundheitswesen generiert werden.

Die Aussichten für die weiteren Entwicklungen sind gut, zumindest für alle, die sich noch mehr Schub und Bewegung in der Debatte wünschen, egal wo diese zunächst hinführt. Im Sommer 2019 rechnet die Branche mit einem weiteren Gesetzesentwurf aus dem Bundesministerium für Gesundheit, das mögliche Ziel: Reform und Erweiterung des e-Health Gesetz von 2015. Über Details kann zum Zeitpunkt aber nur spekuliert werden.

Um nun auf dem Laufenden zu bleiben, lohnt es sich, den eHealth-Podcast für alle Themen rund um Gesundheits- und Medizininformatik auf iTunes oder Spotify kostenlos zu abonnieren oder aller zwei Wochen auf www.ehealth-podcast.de vorbei zu schauen. 

Zum Autor

Martin Thoma studierte in Krefeld Health Care Management und war von 2012 bis 2017 Stipendiat der FNF. Heute ist er Mitglied im VSA und dort Leiter des Fachkreises Gesundheit.

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