Liberalismus wegen und nicht trotz China. Von Timo Bremer

Schwerpunkt

 


Im Wettbewerb mit dem zuletzt deutlich dynamischeren China tauchen immer wieder Ängste und Zweifel darüber auf, ob unser Wirtschaftsmodell die richtige Antwort auf eine langfristig und strategisch gesteuerte Volkswirtschaft ist oder ob wir zu oft und zu leichtfertig an unseren Prinzipien liberaler Wirtschafts- und Handelspolitik festhalten.

Eine Sorge ist, dass China den Wettbewerb bewusst verzerrt, um sich und seinen Unternehmen eine dominante Stellung zu schaffen, wie es sdie zum Beispiel im Rohstoffsektor innehat. China verbrauchte 2017 bei Stahl, Kupfer, Aluminium, Nickel, Blei, Zink und Zinn jeweils zwischen 40 und 60 Prozent der weltweiten Raffinadeproduktion. Eine Maßnahme, die im Verdacht steht, diese Stellung zu zementieren, ist zum Beispiel der Schutz, den chinesische Unternehmen auf ihrem Heimatmarkt erfahren. Außerdem sind ausländische Direktinvestitionen häufig auf Joint-Ventures mit Technologietransfer beschränkt oder komplett verboten. Strategisch wichtige Unternehmen können weiterhin mit allerlei versteckten Subventionen wie Nachsicht bei Fehltritten und laxen Umwelt- und sonstigen Auflagen rechnen. Darüber hinaus gibt es ein nicht minder breites Instrumentarium direkter Subventionen, wie zum Beispiel billige Kredite aus dem staatlich gelenkten Bankensektor.

Selbst wenn eine solche direkte finanzielle Unterstützung nicht tatsächlich häufig oder im großen Umfang fließt, reicht das Wissen darum, dass chinesische Unternehmen jederzeit unterstützt werden könnten, aus, um potentielle Markteintritte oder Investitionen anderer Marktteilnehmer unattraktiv zu machen. Im Dumpingwettbewerb mit einem privaten Unternehmen hat der chinesische Staat immer den längeren Atem. Das Stackelbergmodell, ein spieltheoretisches Modell aus der Wettbewerbsökonomie, erklärt das gut. Hier wählen alle Spieler eine Produktionsmenge, aber orientieren sich dabei an der Entscheidung eines Führungsspielers. Weil er „tiefe Taschen“ hat, wird seine Entscheidung als von ihnen nicht beeinflussbar angenommen. Im Modell reicht allein diese Wahrnehmung, um diesem Spieler eine dominante Stellung zu sichern.

Eine zweite Sorge bezüglich China ist, dass diese erfolgreichen Strategien für das Dominieren einzelner Branchen jetzt auf neue Bereiche entlang der Wertschöpfungskette, insbesondere auf wichtige Zukunftstechnologien, ausgeweitet werden könnten. Die China 2025-Initiative gibt dabei einen ungefähren Anhaltspunkt für den Anspruch der chinesischen Regierung. Über Subventionen für einzelne Unternehmen hinaus können Subventionen für Forschung und Entwicklung sowie für entsprechende Produkte besonders in Bereichen, in denen es noch keine existierenden Cluster von Unternehmen und Talenten gibt, der entscheidende Faktor dafür sein, wo Pionierunternehmen entstehen. Diese kommen allein durch den vorzeitigen Markteintritt bereits in eine dominante Stellung und können diese durch das um sie entstehende Netzwerk und sich daraus ergebende Pfadabhängigkeit sichern. Weiterhin besteht die Sorge, dass westliches Know-How staatlich gefördert zu Preisen, die es nur unter Einbeziehung aller Netzwerkeffekte, aber nicht für ein einzelnes Unternehmen wert wäre, aufgekauft wird.

Beunruhigung über all diese Entwicklungen ist verständlich, aber ich glaube, dass ein liberales Verständnis von Wettbewerb und wirtschaftlicher Entwicklung sehr dabei helfen könnte, das Gewissen zu beruhigen und eine strategisch geschicktere Position einzunehmen. Eine liberale Sicht auf Wettbewerb versteht zum Beispiel, dass der Staat ein schlechter Unternehmer ist. Mit genug Geld kann er einzelnen Unternehmen durch den Ruf wirtschaftlicher Ungebundenheit eine Führungsrolle erkaufen, aber er ist auf Grund der Kosten dabei auf einige wenige Branchen beschränkt und opfert durch die dafür notwendigen höheren Steuern Wettbewerbsfähigkeit in allen anderen Bereichen. Er kann sich Pioniere und Führungspositionen in Wachstumsbranchen erkaufen, nimmt damit aber Kapital und Talente in Beschlag, die vielleicht anderswo noch vielversprechendere Chancen entdeckt hätten. Er kann Know-How aus dem Ausland einkaufen, aber letztlich ist Wissen dynamisch und besteht am ehesten aus dem immer mobileren Humankapital, das durch gute Bedingungen angelockt werden will. Eine liberale Sicht erkennt auch, dass, obwohl die Verzerrungen der chinesischen Regierung gesamtwirtschaftlich schädlich sind und in unserer Volkswirtschaft lokal, bei einzelnen Unternehmen, große Schäden anrichten, es trotzdem westliche Konsumenten sind, die am ehesten profitieren. Der chinesische Steuerzahler subventioniert uns unseren Konsum (gleiches gilt im Fall von Währungsabwertungen auch für den chinesischen Sparer).

Insgesamt lässt sich sagen, dass wie bei Unternehmen auch China als Staat nur da und nur so lange erfolgreich sein und Marktmacht anhäufen kann, solange er die nicht missbraucht. Wettbewerb, auch zwischen Volkswirtschaften, hat eine dynamische Effizienz, deren Erkennen es uns erlauben würde, über kurzsichtiges, für alle Seiten nachteiliges Verhalten Chinas hinwegzusehen, anstatt unsere Reputation dadurch zu riskieren, sich dem Vorwurf auszusetzen, heuchlerisch und voller Missgunst zu sein. Denn seien wir ehrlich, sowohl unsere Vergangenheit als auch die aktuellen politischen Reaktionen sind in vielen Bereichen nicht weit von Chinas Verhalten entfernt. Liberal wäre es, mit Stärke und Selbstbewusstsein zu unseren Prinzipien zu stehen und durch Erfolg zu überzeugen. Dazu ein paar Vorschläge.

1. Deutschland und zahlreiche andere europäische Länder haben eine Tendenz, durch großzügige Forschungsförderung universitär in vielen Bereichen führend zu sein, ohne dass sich das in neuen, innovativen Unternehmen widerspiegelt. Auch verfolgen wir mit Subventionen von Solarenergie bis Batteriezellen häufig industriepolitische Ziele, die wir in der Regel nicht erreichen. Eine Zügelung beider Tendenzen würde uns nicht nur in unserer Kritik Chinas glaubwürdiger machen, sondern auch Unmengen Talent und Kapital für produktivere Verwendungen freistellen. Damit gäbe es außerdem eine Chance, dass sich unternehmerische Fähigkeiten entwickeln, die an der Universität niemand braucht.

2. Ausländische Unternehmen haben in Europa häufig große Schwierigkeiten, ihre anderswo verkauften Produkte zu vertreiben. Nicht-tarifäre Handelshemmnisse in der Form von Regulierungen, die zum Beispiel Produktstandards so hoch oder so spezifisch ansetzen, dass beinahe ausschließlich hiesige Unternehmen die entsprechenden Produkte liefern können, machen ihnen das Leben schwer. Würden wir hier einen liberaleren Ansatz wählen und, zum Beispiel, alle Produkte, die in anderen OECD-Ländern zugelassen sind, automatisch bei uns zulassen, wäre die Behauptung, global für den Freihandel einzutreten, endlich glaubwürdig und wir würden außerdem von mehr Wettbewerb und einem größeren, zusammenhängenden Markt profitieren. Mit etwa 1,3 Milliarden Menschen wäre ein solcher Binnenmarkt mit dem chinesischen vergleichbar und würde in ähnlicher Weise einen hohen Grad an Spezialisierung und Wissensteilung ermöglichen.

3. Für China wie für uns ist der wichtigste Bereich jedoch eindeutig der der Unternehmensunabhängigkeit und Kapitalmarktentwicklung. Zwischen staatlichen Fördertöpfen, KfW-Programmen und dem Rest unseres beinahe komplett staatlichen Bankensektors bleibt der Einfluss privaten Kapitals und der Kapitalmarkt ein zartes Pflänzchen. Spanien hat fast sieben Mal so viele Aktiengesellschaften wie wir, Südafrika gemessen an der Wirtschaftsleistung etwa fünf Mal die Marktkapitalisierung Deutschlands. Auch der Anteil des Sparvermögens, der seinen Weg trotz steuerlicher Schlechterstellung und regulatorischer Hürden (die Geld in risikoarme Staatsanleihen lenken) in den Aktienmarkt findet, ist im internationalen Vergleich sehr gering. Im 19. Jahrhundert wurden Aktiengesellschaften als ein unkompliziertes Instrument verstanden, das es Privatleuten erlaubt, sich ohne große Eintrittsbarrieren für einen gemeinsamen Zweck zusammenzutun. Als solches sind sie Teil der Grundfeste einer freien und anpassungsfähigen Gesellschaft. In meiner Heimatstadt gab es neben Aktiengesellschaften im Bank-, Versicherungs- und Bauwesen auch als Aktiengesellschaften betriebene Parks, Theater, Schwimmbäder, Eisenbahnen, Reitbahnen und einen Zoo. Wenn wir diesen Geist für uns wiederentdecken, könnten wir Kapitalakkumulation und Kapitalallokation deutlich verbessern, Unternehmertum vereinfachen und China mit seiner komplett politisch gelenkten Kapitalallokation ein hervorragendes Vorbild werden.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, naiv zu glauben, dass gute Vorbilder und vernünftiger Umgang allen Grund für Bedenken beseitigen können. Selbstverständlich gibt es gegenüber Chinas Einfluss auch ernste, über wirtschaftliche Aspekte hinausgehende Bedenken. Marktmacht sowie Unternehmen, mitsamt der Technologie und Daten, auf die diese Zugriff gewinnen, könnten von Chinas auf die Stabilisierung der eigenen Machtposition ausgerichtetem autoritären System instrumentalisiert werden. Dass viele chinesische Unternehmen Parteizellen in ihre Führungsstrukturen miteinbinden müssen, ist dabei nur ein Beispiel der vielfältigen Machtinstrumente der chinesischen Partei. Überall dort, wo im engeren Sinne unsere gesellschaftliche Unabhängigkeit in Gefahr ist, muss der Einfluss anderer Länder begrenzt werden. Das sollte jedoch so eng wie möglich und ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen ausgelegt werden. Wir riskieren sonst einen Interventionswettlauf, unsere Glaubwürdigkeit, unseren wirtschaftlichen Vorsprung sowie am Ende auch das, was unser gesellschaftliches System vom chinesischen unterscheidet.

Zum Autor

Timo Bremer studierte Volkswirtschaftslehre in Amsterdam und arbeitet seit 2017 bei der Deutschen Rohstoffagentur. Er ist Altstipendiat der FNF.

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