Der Aufstieg Chinas begünstigt autoritäre Tendenzen in der Welt und fordert den Liberalismus heraus. Ein Essay von Andreas Lehrfeld

Schwerpunkt

 


Mit dem Aufstieg Chinas erwächst dem Westen eine enorme Herausforderung. Der Aufstieg des von der Kommunistischen Partei Chinas streng zentralistisch geführten Landes fügt sich zudem in den Bedeutungszuwachs autoritärer Vorstellungen in aller Welt. Lange Zeit pendelte der China-Diskurs hierzulande zwischen der „gelben Gefahr“ und der Betonung des chinesischen Absatzmarktes für die deutsche Wirtschaft. Lange Zeit hoffte man, dass mit wirtschaftlichen Reformen auch eine gesellschaftliche Öffnung einhergeht, selbst eine Demokratisierung Chinas galt noch zu Beginn des Jahrtausends als realistisch. Unter der aktuellen Staats- und Parteiführung jedoch werden Minderheitenrechte missachtet und eine weitreichende Kontrolle der Gesellschaft forciert. Das gestiegene chinesische Selbstbewusstsein äußert sich auch in einer aktiveren und gestaltungswilligen Außenpolitik. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob liberale Werte weltweit noch einen Gestaltungsanspruch besitzen oder vielmehr autoritäre chinesische Vorstellungen global immer mehr an Einfluss gewinnen. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass das liberale Wertesystem durch den Aufstieg Chinas in zentralen Punkten herausgefordert wird. Dies ist umso drängender, da der Liberalismus und das von ihm abgeleitete Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auch von innen heraus beschädigt wird, wie der Bedeutungsgewinn populistischer und autoritärer Strömungen selbst in traditionell gefestigten westlichen Demokratien zeigt. Der vorliegende Text möchte vor diesem Hintergrund darlegen, warum es angesichts dieser Situation notwendig ist, den Aufstieg Chinas genau zu verfolgen und kritisch zu begleiten.

Um zu verstehen, warum diese Herausforderung so gewaltig ist, bedarf es zunächst eines Blicks nach China selbst. Bereits vor dem Amtsantritt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Jahr 2012 stieg Chinas Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt. Für das Jahr 2019 sagt der Internationale Währungsfonds einen Wert von 19,2 % voraus, so dass das Land mittlerweile für ein knappes Fünftel der Weltwirtschaft aufkommt (Vergleich 2000: 7,4 %). Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung Chinas spiegelt sich in einem gestiegenen nationalen Selbstbewusstsein wider, das von der Staats- und Parteiführung gezielt gefördert wird und sich auch in aggressiven Nationalismus steigern kann. Dies zeigt sich etwa in den Territorialkonflikten Chinas im Ost- und Südchinesischen Meer. Im Jahr 2012 kam es zu schwerwiegenden anti-japanischen Ausschreitungen in der Volksrepublik, als die nördlich von Taiwan gelegenen Senkaku-Inseln (auf Chinesisch: Diaoyu-Inseln) von Japan reklamiert wurden. Den Schiedsspruch des Ständigen Schiedshofes in Den Haag von 2016, demzufolge die weitreichenden chinesischen Territorialansprüche im Südchinesischen Meer unrechtmäßig seien, erkannte man vonseiten Chinas schon gar nicht mehr an. Chinas Gesellschaftsmodell beruht auf dem Grundsatz, den chinesischen Bürgerinnen und Bürgern Stabilität und Wohlstand zu gewähren, ohne dafür politische Teilhabe zu erwarten. Ein hohes Wirtschaftswachstum bildet damit die Grundlage der Legitimation der chinesischen Führung. Wenn gesellschaftliche Gruppen Teilhabe einfordern oder sich gegen den Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei stellen, wird diese jedoch schnell repressiv. Intellektuelle wie der Friedensnobelpreisträger von 2010, Liu Xiaobo, oder Menschenrechtsanwälte werden politisch verfolgt und in großer Zahl verhaftet. Der chinesische Rechtsstaat wird dadurch unterhöhlt und rein politischen Zwecken unterworfen. Im Falle Chinas kommt es zudem zu einer unheilvollen Vermischung von politischer Macht und technologischen Innovationen, da viele große Technologiekonzerne einer staatlichen Aufsicht unterworfen oder der Staats- und Parteiführung zugeneigt sind. Diese Innovationen erleichtern die Kontrolle der chinesischen Gesellschaft erheblich, was im öffentlichen Raum etwa durch flächendeckende Videoüberwachung und Gesichtserkennung sichtbar wird. Dieses hohe Maß an Überwachung manifestiert sich derzeit in der westlichen chinesischen Provinz Xinjiang, in der die muslimische Minderheit der Uiguren lebt. Diese werden mit dem Ziel, religiösen Extremismus und Terrorismus in der Provinz zu bekämpfen, in großer Zahl in Umerziehungslager eingewiesen und ihre religiösen Freiheiten massiv eingeschränkt. Für nächstes Jahr wird außerdem landesweit die Einführung eines Sozialkreditsystems angestrebt, das Fehlverhalten bestrafen und „korrektes“ Verhalten belohnen soll. Schon heute gibt es lokal begrenzte Versuche, dieses System in der Praxis umzusetzen; in gravierenden Fällen führt es dazu, dass Flugreisen nicht mehr möglich sind oder die Internetgeschwindigkeit gedrosselt wird, wenn der entsprechende eigene Sozialkredit unter einen bestimmten Wert fällt. Auch wenn die konkreten Details der Umsetzung noch nicht endgültig beschlossen sind und das System in China selbst wesentlich positiver gesehen wird als im Westen, so stellt es doch einen gravierenden, wenn nicht elementaren Eingriff in die Privatsphäre dar. Auch in der Sonderverwaltungszone Hongkong spürt man den wachsenden Einfluss der Volksrepublik. Obgleich formell mit autonomen Sonderrechten bis 2047 ausgestattet, werden politische Freiheiten zunehmend in Frage gestellt. Der Versuch, ein Auslieferungsgesetz zu verabschieden, das die Autonomie Hongkongs in Teilen erheblich eingeschränkt hätte, scheiterte am massiven Widerstand der Hongkonger Zivilgesellschaft.

Diese autoritären Vorstellungen vom Aufbau und der Funktionsweise des Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft werden dabei nicht nur innerhalb Chinas, sondern auch über seine Grenzen hinweg gefördert. Im Rahmen der Seidenstraßeninitiative („One Belt, One Road“), einem enormen Infrastrukturförderprojekt, vergibt die Volksrepublik Kredite in einer Gesamthöhe von etwa 160 Mrd. US-Dollar an die entsprechenden teilnehmenden Staaten. China erkauft sich mit diesen Infrastruktur-Krediten nicht nur wirtschaftlichen Einfluss, sondern übt auch politischen Druck auf die betroffenen Staaten aus. Als die Regierung von Sri Lanka die chinesischen Kredite beispielsweise nicht mehr bedienen konnte, wurde sie dazu gezwungen, einen Hafen für 99 Jahre an ein chinesisches Staatsunternehmen zu verpachten. Für Schlagzeilen sorgt auch, dass China Überwachungstechnik in Entwicklungs- und Schwellenländer verkauft, etwa nach Afrika oder Lateinamerika. Viele Staats- und Regierungschefs sehen in den chinesischen Technologien eine ideale Maßnahme der eigenen Herrschaftssicherung. Kulturpolitisch begleitet wird all dies von der Eröffnung von Konfuzius-Instituten, die die chinesische Kultur und Sprache fördern sollen, jedoch immer wieder aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung kritisiert werden.

Nicht zuletzt die Debatte um den Verkauf des Roboterherstellers Kuka oder die Verwendung von Technik des chinesischen Technologieunternehmens Huawei im Rahmen des 5G-Ausbaus in Deutschland hat gezeigt, dass im technologischen Bereich enorme Machtverschiebungen geschehen und auch Deutschland sich der Debatte um Chinas wachsenden Einfluss nicht entziehen kann. Wie stark die zunehmende technologische Vorrangstellung Chinas sich auf den wirtschaftspolitischen Kurs Deutschlands auswirkt, zeigte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit der sogenannten „Industriestrategie 2030“. Diese sieht vor, europäische „Industrie-Champions“ zu schaffen, um den chinesischen Staatsunternehmen auf Augenhöhe begegnen zu können, was jedoch grundlegende Prinzipien des freien Wettbewerbs verletzen würde und zu Recht von Wirtschaftsverbänden kritisiert wurde. Auch im europäischen Rahmen bleibt der chinesische Einfluss nicht unbemerkt. China agiert gegenüber der Europäischen Union (EU) mit einer Politik des „teile und herrsche“. So hat es das Land mit dem sogenannten „16+1“-Format, das die meisten Staaten Mittel- und Osteuropas umfasst, erfolgreich geschafft, einheitliche Positionen der EU zu unterlaufen. Das Veto Ungarns hat 2018 etwa dafür gesorgt, dass die EU-Botschafter in China keine gemeinsame Erklärung verabschieden konnten, die die Seidenstraßeninitiative kritisieren sollte. Das EU-Gründungsmitglied Italien ist als bislang einziges relevantes westliches Land in diesem Jahr sogar der Initiative offiziell beigetreten, was europaweit kritisch begleitet wurde.

Bei all diesen Herausforderungen muss jedoch gleichzeitig festgehalten werden, dass die Volksrepublik China ein wichtiger Partner ist, mit dem die Zusammenarbeit auf vielen Politikfeldern essentiell bleibt. So ist das Land trotz seines hohen Kohleverbrauchs ein Vorreiter und Treiber im Bereich nachhaltiger Innovationen. Es hilft nichts, auf Zerrbilder oder Klischees zu verweisen, die der komplexen Realität im 21. Jahrhundert nicht gerecht werden. Die Volksrepublik China ist kein Gegner Deutschlands oder Europas, aber durchaus ein strategischer Wettbewerber, der realpolitisch seinen Einfluss geltend macht. Deutschland und Europa sollten mehr Selbstbewusstsein zeigen, um nicht nur als Machtfaktor relevant zu bleiben, sondern auch das eigene liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell selbstbewusst verteidigen zu können. Dafür ist auch unerlässlich, China-Kompetenz aufzubauen. Wie das Berliner Forschungsinstitut Mercator Institute for China Studies (Merics) dieses Jahr in einer Studie aufgezeigt hat, mangelt es an deutschen Schulen flächendeckend an Chinesisch-Unterricht. Auch in Bezug auf den langfristigen Schüleraustausch (halbes Jahr bis ein Jahr) ist die Zahl ernüchternd: während sich im Schuljahr 2017/18 mehr als 6.000 deutsche Schülerinnen und Schüler für einen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten entschieden, waren es im gleichen Zeitraum nur 38 Schülerinnen und Schüler, die nach China reisten. Angesichts dieser Zahlen zeigt sich eindeutiger Handlungsbedarf.

Dieses Jahr markiert zudem den 30. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, das der Demokratiebewegung in China ein blutiges Ende bereitete. Ein Staat, der solche Gewalt gegen seine eigene Bevölkerung einsetzt und bis heute einen Mantel des Schweigens darüber hüllt, agiert trotz aller Machtdemonstrationen nach außen schwach. Der momentane scheinbare Aufschwung des chinesischen Autoritarismus basiert daher auf tönernen Füßen und zeigt, dass autoritäre Systeme sich nur mit Repressalien an der Macht halten können. Dies sollten die westlichen Demokratien trotz ihrer momentanen Probleme nicht vergessen.

Zum Autor

Andreas Lehrfeld studiert Regionalstudien China in Köln. Seit Oktober 2017 ist er in der Promotionsförderung der FNF.

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