Obszönitäten in lateinischer Dichtung. Von Anja Glaab

Forschung

 


Noch heute ereilt uns eine gewisse Scham, wenn man über das Natürlichste der Welt spricht: Sex. Schnell kann es peinlich werden, sodass man dazu neigt, Dinge zu umschreiben, wenn man schon über dieses Thema sprechen muss. Umschreibungen dienen aber auch dazu, das, was man benennen möchte, zu verrätseln und können es so geheimnisvoll erscheinen lassen.

Das Phänomen, dass Dinge, die das Sexuelle betreffen, nicht beim Namen genannt werden, lässt sich auch schon bei den alten Römern beobachten. Doch welche Beweggründe hatten die Römer, sich – wenn es um Sex ging – in Rätseln auszudrücken? Die lateinische Dichtung Martials, der im ersten Jahrhundert nach Christus lebte, ist ein interessanter Untersuchungsgegenstand dafür. Die Themen, von denen seine Gedichte handeln, sind vielfältig. Er dichtete über römische Kaiser und diverse Städte, jedoch auch über das Glück, das Stadt- und das Landleben, den Tod und die Trauer und vieles mehr. Die obszönen Gedichte, die teilweise äußerst derb und beleidigend sind, nehmen einen nicht unerheblichen Teil – circa 7 bis 8 Prozent – seines Œuvres ein. In diesen Gedichten, so behauptet Martial, wolle er sexuelle Sachverhalte „nicht in unklarer Umschreibung, sondern direkt“ (schemate nec dubio, sed aperte) aussprechen, und bezeichnet diese offene Ausdrucksweise auch als speziell römisch. Betrachtet man seine Gedichte genauer, stellt man aber fest, dass er seinem Anspruch nicht gerecht wird: Statt ‚Penis‘ sagt er zum Beispiel „der, den die keusche Jungfrau nur mit vor die Augen gehaltener Hand ansieht“ (opposita spectat quam proba virgo manu).

In meiner Arbeit untersuche ich genau dieses Spannungsverhältnis: Welche sexuellen Sachverhalte werden auf welche Weise verrätselt und welche Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Autoren, Gattungen und Epochen? Bisher hat sich herausgestellt, dass vor allem vermieden wird, Sexualpraktiken, die als ‚unnatürlich‘ empfunden werden, direkt zu benennen. Die Verrätselung kann dazu dienen, diese Unnatürlichkeit zu untermalen. Das Aussprechen eines unangenehmen sexuellen Sachverhalts ist außerdem mit einem Gefühl von Scham (pudor) verbunden, was ebenfalls zur Bevorzugung einer weniger direkten Ausdrucksweise beiträgt.

Manchmal dient die Verrätselung aber auch eher der Variation und Unterhaltung: Das wohl von einem Zeitgenossen Martials anonym verfasste Corpus Priapeorum ist eine Sammlung von 80 Epigrammen, in denen der Gartengott Priap – als grob geschnitzte Holzfigur mit einem riesigen Phallus im Garten aufgestellt – zu potentiellen Gartendieben spricht und ihnen Bestrafung androht: „Ich werde ihn dir bis zur siebten Rippe hineinstoßen“ (ad costam tibi septimam recondam). Diese Bestrafung in Form einer Penetration ist ein immer wieder vorkommendes Motiv und wird kreativ variiert, indem es beispielsweise als Buchstaben- oder Bilderrätsel verpackt wird: „Wenn du CD schreibst und obendrüber einen Strich hinzufügst, wird der gemalt sein, der dich in der Mitte spalten will.“ (CD si scribas temonemque insuper addas, / Qui medium vult te scindere, pictus erit.)

Um solche Rätsel zu lösen, reicht wie so oft in der Latinistik das Konsultieren der neuesten Forschungsliteratur allein nicht aus. Auch ein Blick in wesentlich ältere Arbeiten vergangener Jahrhunderte, die meist selbst auf Latein verfasst sind, – es war für Jahrhunderte die Sprache der Wissenschaft – kann sehr aufschlussreich sein. So hilft ein Forschungsbeitrag aus dem 18. Jahrhundert dabei weiter, das Kürzel CD aufzulösen. Der Autor Bücheler rät, zunächst die Großbuchstaben CD als Ligatur zu schreiben, das heißt ohne abzusetzen.

Weiter erklärt er: „Nachdem dies nämlich gemacht worden ist, stellen die in einem Zug verbundenen Buchstaben CD die Abbildung der Hoden dar und der obendrüber hinzugefügte Strich die Abbildung des erigierten Penis“ (hoc enim facto colligatae uno ductu CD exprimunt scroti et temo superne additus rigentis mentulae imaginem). Wie das dann schlussendlich aussieht, kann man auf römischen Graffiti erkennen.

Bei der Beschäftigung mit dieser Art von lateinischen Texten ist man mit verschiedenen Problemen konfrontiert: So hat die Sexualmoral der jeweiligen Zeit dazu geführt, dass es Textausgaben gibt, in denen die entsprechenden Gedichte komplett ausgelassen wurden. Außerdem gibt es ‚zweisprachige‘ Ausgaben, in denen einfach links und rechts der lateinische Text abgedruckt wurde – statt wie normalerweise üblich links den lateinischen Text und rechts die Übersetzung bereitzustellen. Es gibt dann aber auch (anonym verfasste) Werke, in denen ausschließlich die obszönen Gedichte abgedruckt wurden, wie den Index Expurgatorius of Martial (1868).

Auch die Kommentare, die bisher zu diesen Gedichten verfasst wurden, sind oftmals ein Spiegel ihrer Zeit. Viele Kommentatoren lassen sich ausführlich über ihre eigenen moralischen Ansichten zu diesen Themen aus, was eigentlich in einem wissenschaftlichen Kommentar nichts zu suchen hat. Besonders verbreitet ist es auch, dass ein Kommentator einem anderen Kommentator, wenn er dessen Ansicht nicht zustimmt, vorwirft: „Da ist wohl seine eigene Fantasie mit ihm durchgegangen.“

Zudem ist es auch heute noch eine beliebte Strategie vieler Kommentatoren, einen deutsch- oder englischsprachigen Kommentar zu lateinischen Texten zu verfassen, der an den entscheidenden Stellen selbst auf Latein ist, was natürlich wenig hilfreich für jemanden ist, der sich mit diesen Texten beschäftigen will und nicht zufällig Latein studiert hat: Bei der Erklärung „mentula, vor allem glans preaputio retracto (vel ut apud Iudaeos circumciso)“ versteht man zunächst nur „vor allem“, und die Übersetzung – „der Penis, vor allem die Eichel, nachdem die Vorhaut zurückgezogen ist (oder wie bei den Juden beschnitten)“ – stellt eine Hürde dar.

Schwierig wird es auch, wenn die Kommentatoren es – zum Beispiel bei Bilderrätseln – vermeiden, eine Zeichnung anzufertigen, und stattdessen in einer komplizierten Beschreibung umständlich erläutern, wie man sich den beschriebenen Gegenstand vorzustellen hat: In einem Gedicht von Ausonius, einem der bedeutendsten Nachfolger Martials, geht es um einen Griechischlehrer, der zu Hause nicht von seinem Beruf abschalten kann und im nackten Körper seiner Ehefrau griechische Buchstaben sieht – es gab also offensichtlich auch damals schon Probleme mit der Work-Life-Balance! Beispielsweise sieht der Lehrer die „gleichen Falten“ (pares rugas), die vom „Tal der Schenkel“ (de valle femorum) ausgehen, sowie den „mittleren Pfad, wo die Ritze des Einschnitts offensteht“ (mediumque, fissi rima qua patet, callem), und assoziiert dies mit dem griechischen Buchstaben Psi (Ψ). Wo genau das Psi anzusetzen ist, kann meiner Meinung nach am einfachsten und eindeutigsten eine Zeichnung illustrieren.

Die Gedichte, mit denen ich mich beschäftige, transportieren natürlich bisweilen Wertvorstellungen, die man heutzutage ablehnen würde. Beispielsweise gibt es viele Gedichte, die die ‚weiblich glatten‘ Wangen eines Knaben loben, da das attraktive Alter eines Knaben jenes war, in dem er sich an der Schwelle vom Jungen zum Mann befand und das Alter des Bartwuchses noch nicht erreicht hatte. Solche Inhalte würden heute sicherlich von jedem Upload-Filter sofort abgewiesen werden! Und den Text „Lydia ist so ausgeleiert […] wie der Armreif, der vom Arm eines magersüchtigen Schwulen herabglitt. Die soll ich in einem Pool gevögelt haben? Davon weiß ich nichts; ich glaube, ich habe den Pool selbst gevögelt“ hätte man vielleicht auch eher einem Rapper aus der heutigen Zeit zugetraut als einem Dichter aus dem ersten Jahrhundert nach Christus – klar: Martial. Ich persönlich finde es aber wichtig, eine Auseinandersetzung mit solchen Texten nicht zu verweigern, sondern bewusst zu suchen.

Und so arbeite ich weiter daran, eine Dissertation zu verfassen, die einerseits wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und andererseits in angemessener, verständlicher Sprache – ohne falsche Scham, aber auch ohne Sensationslust – geschrieben ist. Ich hoffe, ich werde dieser Aufgabe gewachsen sein und freue mich schon auf die Rezension meiner Arbeit, in der es sicher wieder einmal heißen wird: „Bei dieser Interpretation hat Glaab offensichtlich ihre eigene Fantasie mit sich durchgehen lassen!“

Zur Person

Anja Glaab, Dissertationsprojekt: Sexualität als Rätsel. Fallstudien zur Darstellung der Ambiguität von Geschlechterrollen in der antiken Literatur, Fachbereich: Institut für Klassische Philologie, Universität: Goethe-Universität Frankfurt

freiraum #63