Ausführlicher Reisebericht der VSA-Studienreise im September 2019 nach Edinburgh und Glasgow. Von Wolfgang Goldbach

(Alt-)Stipendiatenleben

 


Glasgow, 15 Grad, die Spätsommersonne brennt schon lange nicht mehr: die Reisegruppe ist gerade eingetroffen und lauscht meinen einleitenden Worten zur VSA-Reise. Ich bin überrascht über den hohen Anteil an Reiseteilnehmern, der noch nie zuvor im Norden der britischen Insel war, obwohl keine Flugstunde von Deutschland entfernt. Aber jetzt lässt die politische Situation geradez keinen Aufschub mehr zu, denn Großbritannien wird gewissermaßen jeden Moment die Europäische Union verlassen. Also ist die VSA-Reise mit dem Thema „Der Brexit und seine Bedeutung für Schottland“ vielleicht die letzte Gelegenheit für uns, das Land der rauen Landschaften, Burgen und Whiskys noch im Geiste Europas zu besuchen. Es fühlt sich schon sehr nach einer wehmütigen Abschiedstournee an.

Das Programm führt die Gruppe von Schottlands größter Stadt, der modernen, vom Strukturwandel gezeichneten Kultur-Metropole Glasgow, über den melancholisch besungenen Loch Lomond und das mächtig anmutende Stirling schließlich in die pittoreske Hauptstadt Edinburgh. Die Eindrücke, die wir in den fünf Tagen sammeln sollen, verstärken das Gefühl, das der Brexit ein riesengroßes Missverständnis sein muss – oder zumindest ein bedauerliches Experiment.

Das erste gemeinsame Bier im eindrucksvollen Counting House Pub kann den Schock der Reisegruppe am nächsten Morgen nicht abmildern: Bei der Führung durch die Glasgow City Chambers wird allen schlagartig bewusst, dass auch außerhalb von Deutschland harte Dialekte existieren – und der Glasgower gehört nach einhelliger Meinung der Reisegruppe eindeutig dazu. Zum Glück können wir die prachtvollen Räume – in Üppigkeit und verwendeten Materialien eindrucksvolles Zeugnis britischer Kolonialvergangenheit – auch ohne auditiven Zugang zur Führung genießen. Ein Fakt ist aber wohl bei allen angekommen: Glasgows Stadtverwaltung hat sich das weltweit größte Marmortreppenhaus gegönnt – ausdrücklich größer als im Vatikan!

Danach herrscht allgemeine Erleichterung, als die architektonische Führung durch die Stadt Glasgow mithilfe von Oxbridge-würdigem Englisch erfolgt: Dank der exellenten Tour werden wir darauf aufmerksam, dass das Antlitz der quirligen, lauten und vom Verkehr überforderten Innenstadt vor allem durch das viktorianische Zeitalter sowie durch den berühmten Sohn der Stadt Charles Rennie Mackintosh geprägt ist. Und was könnte das Spannungsverhältnis zwischen sympathischer Schrulligkeit und geschichtsträchtiger Eleganz wohl besser abbilden als das Wellington-Denkmal mit Verkehrshütchen auf dem Kopf?

Den ersten Tag lassen wir im legendären King Tut’s Wah-Wah Hut ausklingen: ein stickiger, etwas klebriger und unglaublich sympathischer Klub, in dem „The Howl & The Hum“ uns mit Indie-Pop einheizen.

Der nächste Tag startet mit einer Diskussionsrunde in der Business School der University of Strathclyde. Beim Thema „Die Folgen des Brexit für Schottland, die Region Groß-Glasgow sowie seine Auswirkungen auf den örtlichen Strukturwandel der letzten 40 Jahre“ sind Graeme Roy (Fraser of Allander Institute) und Joe Molyneux (Councillor von Glasgow, Scottish Green Party) unsere Gesprächspartner. Die Zahlen und prognostizierten Folgen des britischen Austritts aus der EU, die sie präsentieren und mit uns diskutieren, sind erschreckend – nicht nur für die schmal aufgestellte Wirtschaft des Landes, sondern vor allem auch für die Sektoren Forschung, Bildung sowie Arbeit und Soziales – in wirklich allen Bereichen werden herbe Verluste, Einschränkungen und schwächere Performance erwartet. Damit stellt sich die Frage nach den Unabhängigkeitsbestrebungen des Landes und wir beginnen zu begreifen, dass dem Brexit-Schauspiel wohl noch ein weiterer Akt innenpolitischer Krise folgen wird.

Nach dieser schweren Kost müssen wir erstmal den Kopf frei bekommen, und wo ginge dies besser als in der wunderschönen Natur Schottlands? Ganz wie im traditionellen schottischen Lied von 1841, teilt sich unsere Gruppe am Loch Lomond – „…you‘ll take the high road and I’ll take the low road“ – und unternimmt je nach Laune einen malerischen Spaziergang am Wasser entlang oder eine Wanderung auf den Ben Lomond, ein Berg über 3000 Fuß bzw. 914,4m hoch mit wundervollem Blick über das Tal,soweit es Regen und Nebel zulassen.

Der nächste Tag ist geschichtsträchtig; wir starten mit der Burg in Stirling. Seit dem 12. Jahrhundert ist die strategisch wichtige Passage zwischen Süd- und Nordschottland befestigt, und hat dabei mehr Besitzerwechsel und Belagerungen erlebt, als die meisten anderen Burgen des Landes. Der Großteil der heutigen Anlagen stammt aus dem 16. Jahrhundert. Dazu zählen insbesondere die Große Halle und der königliche Palast als elegante Beispiele der Renaissance, welche, umgeben von schmucklos-militärischer Funktionalität des 17. und 18. Jahrhunderts, über knapp ein Jahrhundert Zeugen von Hofleben und Parlamentssitzungen waren.

Dann geht es weiter zur „Deanston Distillery“, wo die Reisegruppe (ja, endlich!) eine Einführung in die Grundlagen rund um das nationale Kulturgut Whisky (im schottischen immer ohne ‚e‘!) erhält: Die Produktion und Lagerung werden uns anhand einer straffen bis emotionslosen Führung durch die Brennerei und – viel wichtiger – anhand eines Tastings der Core Range des Hauses nähergebracht. Dass Whisky inzwischen eines der wichtigsten Exportgüter des Landes darstellt, verwundert ob der Größe der Anlage und seiner Produktionszahlen kaum.

Ab in den Bus und weiter geht’s zum nächsten Tagesordnungspunkt, wo schon eine Führung auf uns wartet: Die „Kelpies“ in Falkirk sind ein eindrucksvolles, mit knapp 30m Größe monumental anmutendes Denkmal neuester Zeit, welches vor allem dem ländlichen Lebensstil und –alltag sowie der Ingenieurskunst Schottlands gewidmet ist. Ihre gleichzeitig majestätische wie dynamische Darstellung umgibt „Baron“ und „Duke“ (die

Clydesdale-Rasse Vorbilder für das Denkmal) mit einer Aura, die gezielt auch auf die Figur des Seepferdes aus schottischen Volkssagen und Mythen anspielt – perfekt positioniert an der Schnittstelle zwischen den Kanälen Forth und Clyde.

Mit dieser Mischung an Eindrücken aus Volkskunde und Mythologie geht es weiter, wieder zurück in die militärische Geschichte Schottlands. Der letzte Stopp des Tages führt uns zum Castle Blackness am Munde des Forth-Meeresarmes, einer für schottische Verhältnisse geradezu herausragend gut erhaltenen Anlage des 15. Jahrhunderts. Im Volksmund wird die Burg oft als „das Schiff, das niemals segelte“ bezeichnet – denn ihr Äußeres erinnert vom Wasser aus stark an einen Bug, während die innerhalb der Burgmauern aufragenden Gebäude als Maste interpretiert werden können. In der Ferne kann man von den Burgmauern aus schon die berühmte Weltkulturerbestätte „Forth Rail Bridge“ erkennen, die mit ihren gewundenen roten Stahlträgern manch einen an eine DNA-Doppelhelix erinnert. Sie ist das sichere Zeichen dafür, dass man sich in unmittelbarer Nähe zur schottischen Hauptstadt Edinburgh befindet. Und dort soll sich nun auch unser Bus hinbewegen.

Der vorletzte Tag der Reise führt uns schließlich in die politische Schaltzentrale des Landes. Nach einer ausführlichen Führung durch das moderne und symbolisch stark aufgeladene Parlamentsgebäude, welches vom katalanischen Architekten Enric Miralles entworfen wurde, geht es weiter in die Kammer. Dort haben wir das große Glück, den heiß begehrten, für Kontinentaleuropäer unüblich konfrontativen und lebhaften Schlagabtausch bei der First Minister Question Time mitzuerleben. Auch hier geht es neben innenpolitischen Fragen an die Regierungschefin primär um die omnipräsenten Themen Brexit und die über der britischen Union wie ein Damoklesschwert hängende, von der regierenden Scottish National Party (SNP) angestrebte Unabhängigkeit Schottlands. Wie um diesen

Eindruck bei uns noch zu verstärken, lassen die drei Abgeordneten der darauf folgenden Round-Table Gesprächsrunde keinen Zweifel daran, dass die Unabhängigkeit gewissermaßen die logische Konsequenz aus der Brexit-Entscheidung von 2016 sein muss. Colin Beattie (Vorsitzender der Parlamentarischen Gruppe zu Deutschland), Gillian Martin (Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt und Klimawandel) sowie Maureen Watt (Mitglied der Parlamentarischen Gruppe zu Deutschland) (alle drei SNP) vertreten leidenschaftlich und vehement die Position, dass die Rahmenbedingungen des ersten schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014 mit den heutigen nicht mehr zu vergleichen sind – damals wurde der schottischen Bevölkerung der Verbleib im Vereinigten Königreich dadurch schmackhaft gemacht, dass nur so eine fortwährende EU-Mitgliedschaft gewährleistet sei. Seitdem im Jahr 2016 eine Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der EU gestimmt hat und nun gegen den teilstaatlichen Mehrheitswillen aus der EU gezwungen wird, scheinen die Argumente für die erneute Abstimmung zur Unabhängigkeit besser als erwartet. Hier hat die regierende SNP viele Überschneidungspunkte mit Oppositionsparteien wie den Grünen oder auch den Liberaldemokraten, wobei ein konzertiertes Vorgehen nicht wirklich forciert wird.

Diesem inhaltsschweren Besuch im Parlament schließt sich eine humoristische Geister-Stadtführung an durch die engen Gassen, Hinterhöfe, Friedhöfe und unterirdischen Räume Edinburghs. Die mit derbem, britischem Humor gespickten Ausführungen unseres Guides James (Stewart) führen nicht zufällig auch zum Grab von Adam Smith, dem Aufklärer und Begründer der klassischen Nationalökonomie, auf dem Canongate Kirkyard.

Den Abschluss unserer Reise bildet ein Besuch der Burg von Edinburgh. Die eindrucksvolle Lage auf dem Basaltkegel eines erloschenen Vulkans sowie die mächtigen Mauern verdeutlichen uns erneut, wie umkämpft und gewaltsam die Geschichte des Landes bis dato war. Der Konflikt mit dem südlichen Nachbarn ist Jahrhunderte alt und scheint nun mit der Brexit-Entscheidung in eine neue Runde zu gehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Gegensätze – anders als aktuell in Katalonien – friedlich und diplomatisch geklärt werden, dass zeitnah eine vernünftige und mehrheitsfähige Entscheidung gefunden wird und dass der europäische Gedanke trotz eines Austritts aus der EU in Großbritannien sowie in Schottland nicht gänzlich in Vergessenheit gerät. Was aber mit Sicherheit nicht in Vergessenheit geraten wird, sind die mannigfaltigen, schönen Eindrücke, die unsere Reisegruppe auf der VSA-Reisebeim europäischen Nachbarn Schottland sammeln konnte. 

freiraum #64