In der Nacht vom 19. November 2017 gab die Parteiführung der FDP ihren Ausstieg aus den Sondierungsgesprächen mit CDU, CSU und Bündnis 90/Die Grünen bekannt, womit die sogenannte Jamaika-Koalition nicht die kommende Bundesregierung stellen wird. Wir sprachen mit FDP-Generalsekretärin Nicola Beer über die Beweggründe und wie es für die Freien Demokraten weitergeht.
freiraum: Von den einen verteufelt, von den anderen bejubelt. Frau Beer, wie haben Sie die Wochen nach dem Ausstieg aus den Gesprächen erlebt?
Nicola Beer: Wir sind mit uns im Reinen: die Entscheidung nicht in eine Regierung einzutreten, die die falsche Politik für unser Land macht, war richtig und ist einmütig getroffen worden. Das wäre keine Reform- und Zukunftskoalition geworden. Da muss man dann auch konsequent sein, wenn man glaubwürdig bleiben will. Trotzdem hat es an diesem Abend sicher mehr Mut bedurft, zu gehen, als zu bleiben und sich mit Ministerposten einkaufen zu lassen. Gerade auch, weil absehbar war, dass wir – insbesondere in den Medien – viel Gegenwind bekommen werden. Gleichzeitig haben wir sehr viel Zuspruch erhalten. Nicht nur auch aus der Partei heraus, gerade auch von Bürgerinnen und Bürgern gab es sehr viele positive Reaktionen: Man begrüßt unsere Gradlinigkeit, stärkt uns angesichts des medialen Gegenwinds den Rücken und auch die Neumitgliederanträge haben noch einmal zugelegt.
Der Ausstieg der FDP kam für die Öffentlichkeit doch etwas überraschend. Die FDP schien ihn aber vorbereitet und keine Bauchentscheidung getroffen zu haben. Welche Verhandlungspunkte waren denn schlussendlich ausschlaggebend?
Wir haben vier Wochen lang sehr intensiv verhandelt, um bis zuletzt auszuloten, ob wir in der Jamaika-Konstellation Trendwenden für eine andere Politik in Deutschland organisieren können: Weltbeste Bildung, eine faire Balance zwischen Privat und Staat mit Entlastung der unteren und mittleren Einkommen, einen durchsetzungsfähigen Rechtsstaat, der zum Beispiel Zuwanderung mit einem Zuwanderungsgesetzbuch ordnet und steuert, eine Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit ebenso berücksichtigt wie Klimaverträglichkeit sowie – last but not least eine Neujustierung der Europäischen Union, um diese für uns so wichtige europäische Zusammenarbeit besser in die Zukunft zu führen. Doch trotz vieler Kompromissangebote unsererseits: Am Ende lagen wir aber immer noch zu weit auseinander. 237 strittige Punkte in über 100 Themen, das ergab keine gemeinsame Vision für die Zukunft der Menschen in unserem Land. Besonders schwerwiegend waren folgende Punkte für uns: Wir konnten weder eine Reform des Bildungsföderalismus erreichen, noch mehr Investitionen in Bildung als bislang geplant war. Doch Deutschland muss dringend mehr Geld für Bildung investieren, etwa in den Ausbau der Ganztagsangebote, in die Digitalisierung und in die Sanierung unserer Schulen. Wir brauchen bundesweit umgesetzte Standards und mehr Kooperation zwischen Bund und Ländern. Wir wollen die Abschaffung Solidaritätszuschlag wenigstens bis 2021, also eine Entlastung der Bürger von circa 20 Milliarden. Am Ende lag als "Kompromissangebot" nur eine Reduktion um 4 Milliarden in 2020 und 6 Milliarden in 2021 vor, der größte Teil wäre also bis in die nächste Legislaturperiode fortgeschrieben worden. In der Klimapolitik hätten wir sehenden Auges eine instabile Stromversorgung in Kauf nehmen müssen und in der Europapolitik neue Finanztöpfe zur Stabilisierung anderer Mitgliedsstaaten, so dass nicht nur dort notwendige Reformen unterblieben wären, sondern vor allem auch die Gefahr einer Vergemeinschaftung von Risiken und Schulden fortbestanden hätte.
Haben es kleine Parteien in Koalitionsverhandlungen und in Koalitionen generell schwerer, weil ihr Erfolg von einzelnen Themen abhängt, während die Union eigene Forderungen einfacher aufgeben kann?
Das glaube ich nicht. Eine Koalition, die letztlich auch über vier Jahre hinweg erfolgreich arbeiten soll, muss allen Partnern erlauben, eigene Inhalte umsetzen zu können. Und so gestaltet sein, dass die gefundenen Kompromisse von allen mitgetragen werden können. Sonst gibt es vier Jahre lang nur Streit. Bei dem was letztendlich Sonntagnacht auf dem Tisch lag, wäre unsere Handschrift nicht erkennbar gewesen. Da war ein "Weiter so" der GroKo mit etwas mehr "Bio" für die Grünen.
War die Parteiführung von vornherein skeptisch gegenüber einer möglichen Regierungsbeteiligung? Die Wahl von Wolfgang Kubicki, einem der Gesichter der Partei in diesen Tagen, zum Vizepräsidenten des Bundestags deutete dies zumindest an.
Wir haben ergebnisoffen sondiert. Klar war aber von Anfang an, dass die vier Gesprächspartner sehr unterschiedliche Auffassungen und auch Wähleraufträge hatten. Daher haben wir alle in der Parteiführung die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu einer Gemeinsamkeit bei Jamaika kommen könnten, stets mit 50/50 beziffert. Zu Verantwortung gehört aber auch, dass man es ernsthaft auslotet. Das haben wir sehr intensiv getan. Zeitweise sah es ja sogar so aus, als ob es doch noch klappen könnte. Dies hat sich dann am fraglichen Abend wieder zerschlagen.
Die FDP verlor zwischen 2009 und 2013 kontinuierlich an Zustimmung in der Wählerschaft, wäh- rend man mit der Union koalierte. Spielte der Gedanke an diese Zeit eine Rolle? Ist Frau Merkel vielleicht eine akzeptable Regierungschefin, aber eine nicht gerade wünschenswerte Koalitionspartnerin?
Für unser Wahlergebnis 2013 machen wir niemanden anderen verantwortlich, auch nicht Frau Merkel. Wir haben damals eigene Fehler gemacht und dadurch die Unterstützung in der Bevölkerung verloren. Trotzdem ist klar: Eine Koalition muss auf klar verabredeten Inhalten und einer gemeinsamen Vision basieren. Hinzu kommt das gegenseitige Vertrauen, dass man bei verabredeten Projekten ebenso wie bei unvorhersehbaren Herausforderungen auf der Grundlage gemeinsam getragener Prinzipien agieren will. Das konnte hier leider nicht erreicht werden.
Im nordrhein-westfälischen Wahlkampf warb die FDP mit dem Thema "Innere Sicherheit". Im Bundestagswahlkampf wurde eine partiell EU-kritische Position betont. In Sachen Familiennachzug trat die Partei während der Sondierungsgespräche auf die Bremse. Versucht die FDP neue, gerade auch konservative Wählerschichten zu erschließen?
Es geht nicht darum, konservative Wählerschaften zu erschließen, sondern darum, in Europa genauso wie in Deutschland klare und faire Regeln zu vereinbaren, die dann auch für alle gelten. Das gehört zur Durchsetzungsfähigkeit des Rechtsstaates, der ansonsten an Unterstützung in der Bevölkerung verliert. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass in Europa Solidarität und Solidität Hand in Hand gehen, Familiennachzug auf der Basis eines neuen Einwanderungsgesetzbuches so gesteuert wird, dass die Integrationskraft in unserem Land nicht überschritten wird und innere Sicherheit als Voraussetzung für persönliche Freiheit gewährleistet wird.
War die enttäuschende Bundestagswahl 2013 ein Indiz dafür, dass die FDP über eine vergleichswei- se kleine Stammwählerschaft verfügt? Muss die Partei eben auch deswegen außerhalb der klassischen Wählerschichten, die von der FDP vor allem wirtschaftsliberale Politik und Abgabensenkungen erwarten, für sich stärker werben?
Als wir die Partei nach 2013 neu aufgestellt haben, haben wir bewusst daran gearbeitet, wie wir das liberale Lebensgefühl auf den Punkt bringen. Mit unserer Vision eines modernen Landes, das die Menschen stark macht, damit sie die sich bietenden Chancen ergreifen können, haben wir immerhin 10,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler überzeugt.
Im kommenden Jahr stehen in Bayern und Hessen Landtagswahlen an. Hängt es von den speziellen Gegebenheiten in diesen Ländern ab oder gibt es eine generelle Strategie für den Wahlkampf?
Selbstverständlich hat jede Wahl ihren eigenen Kontext. Bei Landtagswahlen bestimmen die heimischen Themen die Agenda. Doch diese Themen werden von uns Freien Demokraten sehr bewusst aus den gemeinsamen Überzeugungen und Zielen entwickelt, so dass jede Landeskampagne auch stimmig in den Gesamtauftritt der Freien Demokraten passt. Die gemeinsame Kampagnenführung zwischen den Landesverbänden und dem Bundesverband verstärkt dies und war seit ihrer Einführung 2015 sehr erfolgreich.
In Schleswig-Holstein regiert die FDP zusammen mit CDU und Grünen. Würde die FDP in naher Zukunft gegebenenfalls in Jamaika-Verhandlungen auf Landesebene eintreten oder ist diese politische Dreierbeziehung südlich von Kiel vorerst undenkbar?
Welche Partner miteinander verhandeln werden, hängt vom Wahlergebnis und den jeweiligen Konstellationen zwischen den Parteien vor Ort ab. Die Freien Demokraten sind eine Gestaltungs- und Verantwortungspartei. Es gibt bei uns weder eine Verweigerungshaltung noch die Unterwerfung unter Koalitionsdiktate. Wenn die FDP in eine Regierung eintritt, dann muss eine klare liberale Handschrift erkennbar sein. Uns geht es um Positionen – nicht um Posten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Nicola Beer, geboren in Wiesbaden, ist Rechtsanwältin und seit Dezember 2013 Generalsekretärin der FDP. Sie studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Von 2009 bis 2012 war sie Staatssekretärin für Europaangelegenheiten im Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa. Von 2012 bis 2014 war sie hessische Kultusministerin. Seit 1999 – mit einer Unterbrechung zwischen 2009 und 2013 – ist sie Abgeordnete des hessischen Landtages. Bei der Bundestagswahl im September zog sie als Spitzenkandidaten der hessischen FDP in den Deutschen Bundestag ein.