Von Florian Zenner

Schwerpunkt



Wer in aktuellen politischen Debatten moralische Autorität zu gewinnen oder Kompetenz unter Beweis zu stellen versucht, wählt regelmäßig den Rückgriff auf die ersten Artikel der deutschen Verfassung. Dort sieht das Grundgesetz eine Reihe von Grundrechten vor, die in unterschiedlicher Tiefe den Schutz des Bürgers vor staatlichen Eingriffen in seine Freiheitssphäre verbürgen. Auch der Schutz des Eigentums findet sich in Artikel 14 und wird in der Diskussion um eine Bekämpfung steigender Mieten durch regulierende Eingriffe häufig in Stellung gebracht. Die Gegenseite scheint hierbei ins Hintertreffen zu geraten. Denn zumindest ausdrücklich kann sich ein „Recht auf Wohnen“ dem Grundgesetz nicht entnehmen lassen. Zwar regelt Artikel 13: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Über eine bedeutende Vorfrage geben die Grundrechte allerdings keinen Aufschluss: Welche Wohnung?

Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass ein Recht auf Wohnen keineswegs eine neue Idee oder Wohnungsknappheit gar ein neues Problem darstellt. Vielmehr erkannte schon die Nationalversammlung von 1919 die Notwendigkeit einer Regelung und gewährleistete in Artikel 155 der sogenannten Weimarer Reichsverfassung (Offiziell: Verfassung des Deutschen Reiches) „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung“. In den bundesdeutschen Gliedstaaten wurde diese Tradition teilweise übernommen. So kennen die Verfassungen Bayerns, Berlins, Bremens und Sachsens zumindest dem Wortlaut nach ebenfalls ein subjektives Recht auf eine Wohnung. Andere Länder etablierten eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates, die Entstehung erschwinglichen Wohnraums zu fördern.
Häufig enthalten diese Verfassungen eine ganze Reihe besonders ausdifferenzierter (Grund-)Rechte. Die Weimarer Reichsverfassung wurde bekannt für ihre umfangreichen Gewährleistungen, die sich als Kompromisslösung darstellten und den Ausgangspunkt dafür bilden sollten, ihren Inhalt lediglich als unverbindliche Programmsätze zu verstehen. Auch die subjektiven Rechte der oben erwähnten Landesverfassungen werden heute als bloße objektive Staatsziele verstanden; ihre Relevanz in der Praxis ist eher geringer Natur. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten einem derartigen Missverständnis echter Grundrechte entgegenwirken. Sie beschränkten sich daher auf zentrale Anliegen, die heute alle staatliche Gewalt binden. Das Auslassen bestimmter Verbürgungen sollte den Grundrechtsschutz also nicht schwächen. Vielmehr wurde eine grundrechtliche Durchdringung des alltäglichen Lebens erreicht, die in der deutschen Geschichte ihresgleichen sucht und dafür sorgt, dass aktuelle Debatten stets um eine (grund-)rechtliche Dimension bereichert werden.

Doch zumindest im Hinblick auf das Recht auf Wohnen liegt es nahe einzuwerfen, dass eine objektive Adressierung des Staates oder auch nur ein Programmsatz noch immer mehr Wert habe als gar keine Erwähnung. Mit Blick auf das Grundgesetz könnte also von einem Rückschritt im Vergleich zu Weimarer Zeiten gesprochen werden.

Allerdings steht dem auch ein gewandeltes Verständnis anderer Gewährleistungen gegenüber. So hat die starke Stellung der Garantie der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Herausbildung eines Rechts auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums geführt, das in gewissem Umfang auch das Recht auf eine Unterkunft umfasst. Zwar steht dem Gesetzgeber bei dessen Umsetzung ein beachtlicher Gestaltungsspielraum zu. Flankiert wird dieses Recht jedoch durch eine Reihe völkerrechtlicher Verträge, namentlich den UN-Sozialpakt und die Europäische Sozialcharta, die ihre Vertragsstaaten dazu anhalten, durch politische Maßnahmen nicht nur Obdachlosigkeit zu verhindern, sondern darüber hinaus ein angemessenes Wohnen („decent accommodation“) auch für finanzschwache Teile der Bevölkerung möglich zu machen. Hierbei handelt es sich einmal mehr um objektiv-rechtliche Verpflichtungen des Staates, die in der Bundesrepublik bis heute kaum relevant geworden sind und deren Wirkungsweise auch nicht abschließend geklärt ist. Sie unterstreichen jedoch das gestiegene Bewusstsein für die Problematik und es bleibt abzuwarten, ob die sich zuspitzende Lage am Wohnungsmarkt auch dazu führt, dass solche Normen für die Debatte an Bedeutung gewinnen werden.

Es gibt also ein inhaltlich begrenztes Recht auf Wohnen, das jedoch in umfassender Form keine verfassungsrechtliche Grundlage hat. Es stellt sich daher zwangsläufig die Frage wie mit diesem „Recht“ umzugehen ist, welche Handlungsaufträge es an die Politik richtet und ob es unter Umständen eines Grundrechts auf angemessenes Wohnen bedarf.

Ein solches Grundrecht stößt indes dort auf Probleme, wo es an die Festlegung eines Standards geht. Denn aktuelle Debatten drehen sich weniger um die Frage, ob es überhaupt ein Recht auf irgendeine Form der Unterkunft gibt; dieses ist bereits durch das Recht auf ein Existenzminimum abgesichert. Es geht vielmehr darum zu definieren, was „angemessener“ Wohnraum ist, was „Erschwinglichkeit“ bedeutet und ob es ein Recht auf Leben im Ballungszentrum gibt. Bei Lage und Kosten handelt es sich gewiss um Faktoren, die bei der Definition einer „adäquaten“ Wohnung mit zu berücksichtigen sind. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nennt darüber hinaus sogar den Zugang zu Dienstleistungen, die Zugänglichkeit der Wohnung selbst und die „kulturelle Angemessenheit“. Diese Begrifflichkeiten zeigen, dass der Versuch unternommen wird, einen unbestimmten Begriff durch ebenso unbestimmte Indikatoren klarer zu fassen. Das Ziel einer Präzisierung des Rechts auf „angemessenes“ Wohnen wird damit voraussichtlich nicht erreicht werden. Auf diese Art bleibt es jedoch für gesellschaftliche Entwicklungen und für eine Abwägung der genannten Faktoren offen. Eine solche Abwägung kann nicht durch eine verfassungsrechtliche Einbettung des politischen Status quo gefunden werden. Sie sollte vielmehr dem gesellschaftlichen Dialog entspringen, strukturelle Veränderungen annehmen können und einer flexiblen Handhabe durch den Gesetzgeber unterliegen.

Für Letzteren lassen sich außerdem auch ohne grundrechtliche Verankerung Handlungsaufträge ableiten. So ist es an ihm durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne die Chance hat, eine Unterkunft zu finden und sie zu seiner Wohnung zu machen. Dabei sollte auch nicht auf kurzfristige, rein politisch motivierte oder medienwirksame Maßnahmen zurückgegriffen werden. Der Gesetzgeber muss ein langfristiges Konzept erstellen, um die Entstehung von Wohnungseigentum zu fördern und bezahlbaren Wohnraum zu gewährleisten. Die portugiesische Verfassung formuliert diesen Handlungsauftrag beispielsweise recht präzise. Gemäß Artikel 65 des Landes, in dem circa 75 Prozent der Bewohner über Wohnungseigentum verfügen, obliegt es dem Staat „die Initiativen der Gemeinden und ihrer Einwohner zu fördern und zu unterstützen“ und „privaten Bauvorhaben […] und dem Erwerb eines Eigenheims einen Anreiz zu geben“. Für die Situation in Deutschland könnte dies einen Abbau von Baukosten, Bürokratie und normativen Mehrebenen bedeuten. Vielleicht ein Leitbild das eines Tages dafür sorgen kann, dass auch hierzulande die Wohneigentumsquote nicht nur knapp über 50 Prozent liegt.

Für die eingangs erwähnten Debatten lässt sich daher mitnehmen, dass zur Entwicklung einer vernünftigen Wohnungspolitik auch ohne ein spezielles Grundrecht auf angemessenen Wohnraum genügend normativer Boden bereitsteht, der Denkanreize und Argumente liefert. Während das Existenzminimum eine Begrenzung nach unten darstellt, geben die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik dem Begriff der adäquaten Wohnung etwas schärfere Konturen und gleichzeitig Leitlinien zu dessen Umsetzung vor. Die Europäische Sozialcharta spricht etwa von einer Förderpflicht des Staates („to promote access to housing of an adequate standard“). Versteht man diese im Wortsinne, so bleibt weiterhin der Einzelne im Mittelpunkt, dem der Staat nicht im Weg stehen, sondern den er bei der Schaffung von Wohnraum unterstützen soll.

freiraum #65