Doch wer bin ich und wo kann ich mich finden? Von Nele Sadlo

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Wenn wir uns vorstellen, was sagen wir dann?

Hallo, mein Name ist Nele, ich bin 21 Jahre alt, ich wurde irgendwo in Deutschland geboren, ich studiere Kunst und ich male gern, ich träume manchmal einfach vor mich hin, ich esse oft zu viel … und du so?

Und wenn ich dann ein ERASMUS Semesters in Madrid mache, die Stadt eines Landes, dessen Sprache ich anfangs nicht wirklich mächtig war, fällt dieses ‚sich vorstellen‘ noch etwas genereller aus, noch nichtssagender.
Dabei wäre ich doch gerne in der Lage, etwas über mich zu sagen, was Gewicht hat. Etwas, dessen ich mir sicher bin. Ich würde gerne darüber sprechen können, wer ich bin und was mich ausmacht oder, noch viel interessanter, wer ich einmal gern wäre und weshalb. Ich finde nur keine Worte. Aber selbst, wenn ich welche finden würde, müsste ich vorher erstmal wissen, wer ich bin. Und um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung.

Ich stimme in diesem Punkt Max Beckmann, ein deutscher Expressionist, zu: „Das ‚Ich‘ ist das größte und verrätselte Geheimnis der Welt.“
Nun bin ich jedoch sehr neugierig, suchend, rastlos … und Künstlerin. Also gebe ich mich nicht damit zufrieden, einfach keine Antwort auf diese Frage zu finden beziehungsweise formulieren zu können.

Wer bin ich?

Ich bin immer anders, für jeden Menschen, dem ich begegne. Jeder hat eine andere Version von mir in seinem Kopf. Sei es meine Mutter, mein Vater, meine Schwester oder mein Nachbar, meine Kommilitonin, mein Professor oder die alte Dame, mit welcher ich gerade Blickkontakt beim Überqueren der Straße hatte. „Ich“ existiere in immer verschiedenen Versionen in den verschiedensten Köpfen. Und doch ist dieses „Ich“, dieses „Ich selbst“ gar keine konkrete Person. Nichts Wirkliches.

Doch die Neugierde auf diese scheinbar unbeantwortbare Frage hat mich dazu geführt, Selbstporträts zu malen. Mich meinem eigenen Blick auszusetzen und gewiss – betrachtet man sich selbst über mehrere Stunden im Spiegel – verwandelt sich diese Person gegenüber doch in jemand völlig Fremdes. Ein Dialog zwischen Zweien. So ein Selbstporträt stellt dann letztlich eine Zeitcollage dieser Betrachtungsdauer dar. So entsteht ein Bild, in dem ich mich irgendwie wiederfinde, diese Gesichtszüge, dieser Blick – oder sind es doch nur meine „Spuren“, die ich durch Pinselstriche auf der Leinwand hinterlassen habe.

Schaut meine Mutter diese Selbstporträts an, höre ich jedes Mal so etwas wie: „Und das sollst du sein, Kind?!“ – Ja, schon irgendwie. Irgendwie aber auch nicht. Ich weiß es auch nicht.

Und dann begann ich mein Semester in Madrid und hatte als Verständigungsmittel darüber, wer ich bin, außer „dieser neuen Deutschen“ doch nur meine Bilder. Ich konnte nicht adäquat auf Spanisch beschreiben, wo ich herkomme, was ich mag, was mich interessiert; ich konnte nur zeigen, was ich mache. Ich konnte zeigen, was ich sehe, wenn ich in einen Spiegel schaue, was ich tue, wenn ich glücklich oder verzweifelt bin, und wie sich dadurch Farbigkeit und Pinselduktus verändern. Und so, wie es tausende Versionen von mir selbst gibt, so sieht auch jeder etwas anderes in diesen Bildern. So kamen wir dann doch alle auf diese Art und Weise ins Gespräch, beziehungsweise in einen Austausch.

Egal, wie viele Selbstporträts ich jedoch male und wie oft mir auch bereits die Frage gestellt wurde, warum ich denn immer mit meinem Gesicht weitermache und keinem anderen Motiv, so bleibt doch diese Neugierde, ob es einmal einen „klaren“ Moment geben wird, in dem ich „mich“ sehe.

Ich meine, was für eine Person würdest du dir vorstellen, wenn du diese Bilder anschaust?

freiraum #65