Ein Interview mit Jacob Chammon. Von Matilda März

Interview



Jacob Chammon ist seit dem 1. April 2020 geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung. Er war Schulleiter der Deutsch Skandinavischen Gemeinschaftsschule in Berlin und hat dort den Entwicklungsprozess zu einer digitalen Schule erfolgreich gestaltet. Dabei konnte er auf seine Erfahrungen aus Dänemark zurückgreifen, wo er als Berater und Coach für Schulleitungen und Schulverwaltungen tätig war. Als ausgebildeter Lehrer hat er zudem zahlreiche didaktische Bücher und Unterrichtsmaterialien veröffentlicht. Das Forum Bildung Digitalisierung gestaltet den digitalen Wandel im Bildungsbereich. Im Zentrum der Arbeit stehen die Chancen digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung.

Mit Jacob Chammon unterhalte ich mich über das Gerüst unserer Gesellschaft, die Bildung. Ein Gespräch über die Notwendigkeit eines digitalen Kulturwandels, die Chancen der Corona-Krise und die Aufgabe der Medien.

Herr Chammon, die Weiterentwicklung der digitalen Bildung scheint in Deutschland auf dem Level von Lernvideos und vereinzelt vorhandenen Smartboards stehengeblieben zu sein. Ist es die Angst vor der Technik als große Unbekannte? Oder halten wir zu sehr an traditionellen Bildungsstrukturen fest?

Als Angst vor der Technik würde ich es nicht pauschal beschreiben. In vielen Bereichen, zum Beispiel in der Industrie und Wirtschaft, ist die Digitalisierung deutlich vorangeschritten. Im Bildungsbereich ist hingegen tatsächlich noch sehr viel Luft nach oben. Das liegt vor allem daran, dass man hier nicht so systematisch herangegangen ist, wie es notwendig gewesen wäre. Das bekommen wir durch die Corona-Krise jetzt auch zu spüren. Um tatsächlich voranzukommen, muss die Digitalisierung die gesamte Komplexität des deutschen Bildungssystems umfassen und nicht nur als das Bereitstellen von Lernplattformen und digitalen Endgeräten begriffen werden.

War die Corona-Krise in gewisser Weise der notwendige, wenn auch schmerzhafte Anstoß, den das Bildungssystem benötigt hat? Zwingt sie eine Veränderung herbei, die andernfalls möglicherweise noch Jahre in der theoretischen Debatte festgesteckt hätte?

Ich denke, die gesamte Situation ist in jedem Fall ein unglaublicher Katalysator für einen Prozess, der schon längst überfällig gewesen ist. Sie hat sehr viel Schnelligkeit ins System gebracht, Kreativität bei der Unterrichtsplanung und Konzepterstellung gefördert und Motivation für das Ausprobieren von Neuem gebracht – aber dabei auch gezeigt, wo die Grenzen des bisherigen Systems liegen. Wenn Eltern jetzt plötzlich 47 Arbeitsblätter für ihre Kinder zugeschickt bekommen und Kinder fast ausschließlich von zu Hause aus lernen, ist das keinesfalls eine gute digitale Didaktik. Diese Notlösungen sollten daher nicht als zukünftige Idealvorstellung oder gar als zwingende Inhalte der Digitalisierung verstanden werden. Was wir stattdessen brauchen, sind nachhaltige didaktische Konzepte für gute Pädagogik mit digitalen Medien.

Welche Lehren und damit Veränderungen sollten hinsichtlich der Bildung aus der Corona-Krise gezogen werden?

Was bleiben sollte und muss, ist der Fokus auf die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung. Die momentane Bereitschaft von Lehrkräften als auch Schüler*innen, sich auf Neuland zu begeben, erlaubt die Vielfältigkeit der digitalen Angebote zu entdecken. Dieser Mut, Fehler zu machen, Dinge auszuprobieren, neue Wege zu gehen – das ist es, was letzten Endes einen Fortschritt vorantreibt. Die gesamte Palette des Schulsystems – Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulträger – lernen gerade gemeinsam. Ich wünsche mir, dass dieser Mut und diese Zusammenarbeit bleiben, genauso wie die Erkenntnis, dass digitale Bildung die Lernmöglichkeiten immens erweitert und bereichert und keine Gefahr bedeutet.

Andererseits hat die Krise gezeigt, wie wichtig die Beziehungsarbeit ist und wie schwierig diese sich durch einen Bildschirm gestaltet. Die eigentlich wichtigste Aufgabe einer pädagogischen Fachkraft, das Begleiten und zur Seite stehen während des Lernprozesses, ist online nur schwer möglich. Das Lernen auf Distanz sollte also in der Zukunft wieder hinter dem direkten Miteinander von Lehrkräften und Schüler*innen zurückstehen – und eben nicht als Inbegriff des digitalen Lernens verstanden werden.

Wie sehen Sie die Chancen, dass sich diese Bereitschaft auch nach der Corona-Krise weiter durchsetzt und den digitalen Wandel vorantreibt?

Ich denke, dass hier vor allem den Medien selbst eine zentrale Aufgabe zukommt, dass das Thema Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs behält und nicht an Relevanz verliert. Durch die momentane Situation ist das Thema Digitalisierung in aller Munde, denn neben der Bildung sind auch fast alle anderen Prozesse momentan nur im digitalen Format möglich. Wir alle lernen gerade die Vorteile der Digitalisierung zu schätzen und die Krise macht die Notwendigkeit von pädagogischen Konzepten für das Lernen mit digitalen Medien deutlich – für die Schulen, für Eltern aber auch für die Politik. Ziel sollte es also sein, auch nach Rückkehr des Präsenzbetriebs die Gespräche über einen digitalen Kulturwandel in der Bildung aufrecht zu erhalten und die Schulen zu unterstützen.

In welchen Bereichen ist digitale Bildung ein Mehrwert für Schülerinnen und Schüler? Wie steht es um das Verhältnis von analoger Lehrbuchlektüre zu digitalen Lehrangeboten?

Ich habe in meiner Tätigkeit als Schulleiter jahrelang eine Schule geleitet, die ihren Fokus auf die Digitalisierung gelegt hat. Dabei war das Ziel jedoch nie, vollkommen digital zu werden, sondern die einzelnen Vorteile der Lernformen zu erkennen und sinnvoll einzusetzen. Es geht nicht um ein „entweder-oder“, sondern um ein „sowohl-als auch“. Kinder sollen genauso auf Papier schreiben und mit Büchern arbeiten wie auf dem Computer tippen und digitale Angebote zu nutzen. Doch anstatt pauschale Arbeitsweisen festzulegen, sollte das Ziel sein, das genutzte Medium von dem jeweiligen pädagogischen und didaktischen Ziel abhängig zu machen. Insbesondere im digitalen Bereich sollten Schüler dabei nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Produzenten verstanden werden. Oft sind die Schüler*innen aber nur reine Konsument*innen digitaler Medien, dabei bestehen unzählige Möglichkeiten, auch selbst Inhalte zu produzieren. Mit diesen Möglichkeiten zu arbeiten bereichert nicht nur das Lernen, sondern erweitert auch das Verständnis junger Menschen für die Medien, die wir täglich nutzen.

Wie steht es um die digitalen Kompetenzen aller Beteiligten, die Voraussetzung für erfolgreiche digitale Bildung sind?

Was wissenschaftliche Studien relativ eindeutig zeigen, ist, dass sich die digitalen Kompetenzen von Schüler*innen auf einem sehr basalen Level befinden. Um solche Kompetenzen zu vermitteln, muss die Lehrkraft aber selbst darüber verfügen, weshalb der Erwerb digitaler Kompetenzen auch zwingend in allen drei Phasen der Lehrkräftebildung verankert werden muss. Die weitaus größere Herausforderung ist dann jedoch die Frage, wie man diese Fähigkeiten den Lehrkräften vermittelt, die ihre Ausbildung schon längst abgeschlossen haben. Da reicht es nicht, einmalige Fortbildungen zu besuchen, sondern das Wissen muss dann auch in den Schulen verankert werden. Ich hatte an meiner Schule beispielsweise ein Halbzeitkraft, die nur dafür zuständig war, den Kolleginnen und Kollegen im Unterricht digital beizustehen und gemeinsam auszuwerten, wann und wo digitales Lernen didaktisch sinnvoll ist. Unsere Nachbarn in Europa und andere Länder sind hier schon weiter, wie wir als Forum in einer Expertise zu internationalen Reformstrategien für Bildung in der digitalen Welt herausgefunden haben. In Tschechien werden etwa an den meisten Schulen ICT-Koordinatoren* an der Schnittstelle zwischen technischem Support und pädagogischer Arbeit eingesetzt, die neben den technischen Möglichkeiten auch die pädagogische Seite im Blick behalten.

Welche Rolle spielt das Thema Quellenkritik angesichts der immensen Angebote der digitalen Wissensbeschaffung?
Quellenkritik ist in jedem Fall ein Thema, der mit dem Einzug neuer Medien deutlich an Relevanz gewinnt. Die Chancen der unbegrenzten Informationsbeschaffung, die das Internet mit sich gebracht hat, erfordern von allen Beteiligten ein gesteigertes Maß an Kritik. Dazu bedarf es der Kompetenz Informationen zu hinterfragen – Lehrkräfte müssen die Schüler*innen dafür in ihrem Unterricht sensibilisieren und auch selbst das Thema auf dem Schirm haben. Ich bin in meiner Lehrausbildung in Dänemark darauf geschult worden, das Lehrmaterial selber kritisch anzuschauen und auszuwählen. Eine solche Sensibilisierung muss auch in Deutschland noch stärker gefördert werden, besonders wenn vermehrt auch freie Lehr- und Lernmaterialien (OER) eingesetzt oder Inhalte aus dem Internet in den eigenen Unterricht integriert werden.

Sie haben es sich mit dem Forum Bildung Digitalisierung zur Aufgabe gemacht, Bildungseinrichtungen im digitalen Kulturwandel zu unterstützen. Machen Sie damit nicht eigentlich den Job, den man von den jeweiligen Ministerien erwarten würde?

Ja und nein. Klar ist, dass alle Akteure im Bildungsbereich zusammenarbeiten müssen. Hier ist insbesondere auch die Politik, die gute Rahmenbedingungen schaffen kann, gefragt. Dabei ist das Thema jedoch nicht mit einem Digitalpakt abgehakt, denn Grundvoraussetzung für den systemischen Wandel ist eine Haltungsänderung – und dort können wir mit unseren Angeboten als zivilgesellschaftlicher Akteur eine tragende Rolle spielen. Der digitale Kulturwandel passiert vor allem in den Köpfen der Lehrkräfte und Schulleitungen, das kann und sollte nicht von oben verordnet werden und auch in der Bildungsadministration muss für die Bedeutung der Digitalisierung von Schulen noch stärker sensibilisiert werden. Genau hier setzen wir als Forum Bildung Digitalisierung mit unserer Arbeit an – wir wollen im System wirken, aber auch am System. Das heißt wir arbeiten sowohl mit Schulen als auch mit Ministerien und der Bildungsverwaltung zusammen, um dieses Thema an allen Seiten voranzubringen.

Wie kann eine solche Haltungsänderung erreicht werden? Welche Fragen müssen dafür aufgeworfen werden?

Grundlegend ist der Mut, auch die großen Fragen der Bildung zu stellen. Wie sieht zeitgemäßes Lernen aus? Wie sollte sich Leistungsbewertung gestalten? Was dem jedoch immer entgegensteht, sind die Ängste, etwas falsch zu machen. Diese Bremse ist momentan etwas gelockert, weil offensichtlich wurde, dass etwas getan werden muss. Diese Haltungsänderung hat Akzeptanz für Konzepte geschaffen, die über den momentanen Tellerrand hinausblicken. Nach den Schulschließungen müssen wir uns aber auch die Frage stellen, was das eigentliche Ziel von Bildung ist. Vergleichen wir zum Beispiel das Verhalten von Deutschland und Dänemark hinsichtlich der Schulöffnungen im Zuge der Corona-Krise: Während man in Dänemark Schulen und Kitas schon seit rund sechs Wochen wieder geöffnet und alle Prüfungen, außer den Abiturprüfungen in der 13. Klasse, abgesagt hat, dürfen in Deutschland weitestgehend nur die Kinder in die Schule, die zu Prüfungen antreten müssen. Ich will das nicht bewerten, aber vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit auch einmal die grundsätzlichen Fragen zu stellen, das ganze System auf den Kopf zu stellen und herauszufinden, was uns in unserem Schulsystem im 21. Jahrhundert wichtig ist und welche Traditionen aus dem letzten Jahrhundert wir vielleicht auch hinter uns lassen könnten.

Vielen Dank für die Denkanstöße und Einschätzungen!

*Information and Communication Technology-Koordinatoren, Anm. d. Red.


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