Meine Geschichte. Von Ahmad Alani

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Im Juli 2005 wurde mir gesagt, ich müsse in den Pflichtwehrdienst gehen, der den Männern in Syrien auferlegt wird, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben. Daher beendete ich dieses bittere Experiment im Jahr 2007. Als ich zurückkam erfuhr ich, dass mein Vater an Hepatitis im Endstadium erkrankt war, ohne Aussicht auf Genesung. Die letzten Worte, die er, in einem wachen Moment seines Zustands, zu mir sprach, waren: Beende dein Studium; du weißt nicht, wann du das Land verlassen musst, da wir uns in jedem Moment in einem Krieg befinden könnten. Mein Vater hatte die Weisheit eines sechzigjährigen Mannes, der wusste, dass unser Land an einem Punkt angekommen war, an dem ein Krieg unausweichlich schien. Er war sich bewusst, dass das Land bald explodieren würde – die Korruption der Regierung erreichte ein unerträgliches Niveau.

Es war wie im Roman „1984” von George Orwell. Nur, dass wir nicht im Staat „Oshina" lebten, sondern in Syrien unter der Autorität dieser „einen Partei” und der Führung seines „großen Bruders" Baschar al-Assad und seinem Vater, Hafez Al-Assad.
In Syrien haben wir als Kinder gelernt, dass die Wände Ohren haben. Das Reden über oppositionelle Politik oder des freien Denkens wird vom „großen Bruder Syriens”, als Verbrechen bezeichnet.

Raqqa war eine einfache Stadt, bei der ein großer Prozentanteil der Syrer selbst nicht wusste, wo sie liegt. Für einige Menschen beherbergte sie nur Hirten in ihren Zelten, die ihr Vieh an den Ufern des Euphrat weiden ließen. Auch der Regime-Chef besuchte Raqqa erst nach dem Beginn der Revolution, nur um zu beweisen, dass er selbst in den entlegensten Provinzen seine Anhängerschaft hatte.
Raqqa, meine kleine und vernachlässigte Stadt, ist zu trauriger Berühmtheit gekommen – mehr noch als Paris mit dem Eiffelturm oder als Berlin mit dem Brandenburger Tor.

Der Grund für ihren Ruhm waren jedoch nicht die Hirten mit ihrem Vieh, nein es war das Hissen der Al-Qaida Flagge am höchsten Fahnenmast der Stadt, welches in jedem Fernsehsender und den ältesten Zeitungen dieser Welt seit 2011 bis 2012 gezeigt wurde.
Alle Syrer wussten um die enge Verbindung zwischen dem diktatorischen Regime Syriens und Al-Qaida. Seit Beginn der Revolution in ihren frühen Tagen und vor der Bildung einer bewaffneten Fraktion, begannen die syrischen Medien, über Terroristen zu sprechen, die es damals in unserer Stadt nicht gab – Terroristen. Dieses Wort war die geheime Waffe des Regimes und der Trumpf, den Assad benutzen wollte, um den Westen davon zu überzeugen, dass er seinen Krieg gegen den Terrorismus führte.

Die Geschichte begann im Mai 2011, als Assad eine, wie er es nannte, Generalamnestie erließ. Dies bedeutete für ihn aber, dass er, anstatt politische Häftlinge – die friedlich demonstrierten – freizulassen, hunderte Dschihadisten laufen ließ. Dies tat er, um dem Westen zu beweisen, dass er keine Revolution im eigenen Land hätte, sondern nur gegen Dschihadisten Krieg führe, welche einen islamischen Staat gründen wollen würden. Aus diesen extremistisch-gesinnten Formationen, begründet durch die freigelassenen Dschihadisten – die damals ein Dutzend nicht überstieg – zogen alle bewaffneten Gruppen von mehreren Achsen her ins Herz der Stadt.

Am nächsten Morgen sah ich zum ersten Mal jemanden, der sich einen Sprengstoffgürtel anlegte – was mir erst später bewusst wurde. Die Tage vergingen und diese zu anfangs kleine Gruppe von Dschihadisten begann, an Größe zuzunehmen, und die noch verbliebenen Gruppen der Freien Syrischen Armee zu schlucken. Diese weigerten sich aber, mit ihnen zu fusionieren. Junge Menschen, die die Freiheit gefordert und die Bürgerbewegung unterstützt hatten, wurden entführt und verschwanden.

Assads Regime filmte zu Beginn Demonstrationen der aufstrebenden Revolution, um so Regime-Gegner zu identifizieren, um diese später zu verhaften und ins Gefängnis zu werfen. Ich erinnere mich, wie der IS zu Beginn der Revolution genau den gleichen Stil des Regimes anwendete. Sie haben die Demonstranten gefilmt und die meisten von ihnen wurden entweder entführt oder getötet. Ein kleiner Teil von IS-Gegnern schaffte es, in die Türkei zu fliehen, aber sie wurden sogar dort verfolgt und brutal liquidiert, sodass die Übrigen nur noch die Möglichkeit auf Asyl hatten.

Ich erinnere mich genau daran, wie Regime-Flugzeuge brutalst das Zentrum der zivilen Versammlungen und die Orte von Fraktionsversammlungen, die ohne religiösen Hintergrund waren, bombardierten. Diese Flugzeuge ignorierten bewusst die Hochburgen des IS, die sich in den größten Gebäuden der Stadt befanden. Die Flugzeuge des Regimes haben den IS offen unterstützt, und das ist für die Bewohner meiner Stadt nie ein Geheimnis gewesen.

Im Januar 2014 übernahm der IS die Kontrolle über gesamt Raqqa und im selben Jahr wurde die Gründung des Kalifats ausgerufen. Ich erinnere mich an die euphorische Reaktion der IS-Kämpfer, die daraufhin mehrere Stunden lang in die Luft schossen. Sie waren über die Gründung des Kalifats sehr glücklich.

Es wurde zur Normalität, Kinder zu sehen, die IS-Uniformen trugen – Kinder aller Nationalitäten und aller Altersgruppen. Wir anderen, die keine Dschihadisten waren, wurden von IS-Kämpfern beschimpft, da wir die waren, die Kinder nicht ermutigen, sich den IS-Reihen anzuschließen.

Natürlich schlossen die Universitäten und Schulen. Diejenigen, die nach dem üblichen Lehrplan versuchten zu unterrichten, wurden verfolgt. Mehrere Ministerien wurden vom IS geleitet, darunter auch das Bildungsministerium. Lehrbücher nach den Ideologien des IS wurden veröffentlicht, die versuchten die Aggressionen der Kinder hervorzurufen.

Mathematische Probleme, wie zum Beispiel die Division, wurde den Kindern wie folgt beigebracht. Sie haben eine PKC und 42 Schuss. Die Frage ist: Wie kann man sieben Menschen mit diesen 42 Schuss töten!!!

Die IS-Organisationen konzentrierte sich zum größten Teil auf Kinder, weil sie wussten, dass Kinder ein fruchtbarer Boden waren, um die Ideen des Dschihads in ihre jungfräulichen Köpfchen zu pflanzen – und die Terroristen waren sehr gut darin.

Mein Nachbar hat mir die Geschichte über seinen 12-jährigen Sohn erzählt, der zu einer echten Gefahr für ihn wurde, da er (der Sohn) heimlich dem IS beitrat. Als sein Vater dies erfuhr und versuchte ihn davon zu überzeugen sich ihnen nicht anzuschließen, drohte der Sohn den Amir (den Führer des IS) anzurufen, um ihm zu sagen, dass sein Vater nicht wolle, dass er sich dem IS anschloss, weil er den IS für gefährlich halte – der Vater sollte so erpresst werden.

Dies war eine der Strategien, die vom IS angewandt wurde. Sie stellten Kindern Telefonnummern zur Verfügung, um mit ihrem Amir kommunizieren zu können, falls Eltern versuchten, ihre Kinder zu zwingen, den IS zu verlassen.

Als der IS bemerkte, dass die von ihm verteilten Broschüren nicht mehr dem Zweck dienten, wechselte er zu anderen Medien. In den Hauptstraßen und an öffentlichen Orten wurden auf riesigen Bildschirmen und mit Lautsprechern die Schlachten und Turniere der IS-Kämpfer gezeigt.

Die Situation in Raqqa wurde immer dramatischer. Sobald man das Haus verließ musste man Ansammlungen von IS-Kämpfern sehen, die Bestrafungen vollzogen. Diese reichten von Auspeitschungen bis hin zu Mord. Sie zwangen die Menschen ihre Lieder zu hören, welche ihren Heldenmut verherrlichten oder dazu drängten die Feinde des IS zu töten. Man wurde gezwungen Banner und Plakate zu lesen, die überall hingen. Und das ist nur ein kleiner Teil, den ich hier nennen will. Kurz gesagt – die komplette Stadt wurde mit fanatischen Ideen überschwemmt, egal wohin man sich bewegte.

Das Leben ging weiter und ich musste in einem unserer Geschäfte im Zentrum der Stadt Raqqa arbeiten, da ich mein Studium in der Nachbarstadt nicht abschließen konnte, weil es unter der Kontrolle des Regimes war. Weil ich an einer Demonstration teilnahm, wurde ich seit 2012 verfolgt und ich hatte auch nicht den Mut die Stadt zu verlassen, da ich Angst hatte, vom Regime verhaftet zu werden. Es reichte, die Bilder zu sehen, die von dem geflüchteten Fotografen Caesar in die USA geschmuggelt wurden. Auf diesen ungefähr 55 Tausend Fotos sieht man fast 11 tausend Tote in den Gefängnissen Assads.

Und so begann ich zu arbeiten, seit die Universität ihre Türen geschlossen hatte und es zu diesem Zeitpunkt keine andere Möglichkeit für mich gab. Aufgrund meiner Arbeit in unserem kleinen Baumarkt musste ich mich zwangsläufig mit den IS-Kämpfern auseinandersetzen. Ich habe viele von ihnen getroffen – Männer, Frauen und Kinder verschiedener Nationalitäten. In schwarz gekleidet; einige von ihnen waren „scharf” darauf, die Maske zu tragen, die einem ein ständiges Gefühl der Angst gab, denn die Maskierten trugen meist Sprengstoffgürtel darunter.

Jeder der dort lebte, begann nach und nach zu glauben, daran zu ersticken. Ich bin einer von ihnen. IS war überall – in den kleinsten Winkeln unseres Lebens. Ich habe Geschichten gehört, die man sich nicht vorstellen kann. Kinder, die auf ihre Eltern losgegangen waren, Geschwister, die sich gegenseitig getötet haben, Köpfe, die an Speeren auf den berühmtesten Plätzen der Stadt steckten.

Einer dieser Plätze hieß Platz Alnaeem: Platz des Paradieses. Ich war daran gewöhnt, täglich diesen Platz zu besuchen, besonders im Sommer, um Eis und Pfannkuchen zu essen. Ein Platz, auf dem sich junge Leute, Studenten, Arbeitslose, Jugendliche und ältere Menschen trafen. Aber dieser Platz verwandelte sich in ein „Hinrichtungshof” mit Blut und Leichen. Dieser Platz, der das Paradies genannt wurde, verwandelte sich nach und nach in einen Platz der Hölle.

Eines Tages kam ein IS-Kämpfer in unser Geschäft, um etwas zu kaufen. Er fragte mich nach meinem Namen und sagte mir, dass es besser sei, einen Bart zu tragen. Er sprach kaum Arabisch und sein Name war Abu Abdullah.

Abu Abdullah ist fast täglich zu meinem Arbeitsplatz gekommen und verbrachte manchmal Stunden in unserem Laden. Wenn er den Laden betrat, konnten mein Bruder und ich nicht mehr rauchen. Wir waren es gewohnt, heimlich zu rauchen, seit der IS das Rauchen verboten hatte.

Mein Bruder und ich waren sehr daran interessiert, die stärksten Lufterfrischer zu kaufen, die wir oft selbst nicht ertragen konnten, aber das war der beste Weg, um den Geruch von Zigaretten zu kaschieren. Wir hatten uns mit einem unserer Nachbarn auf ein Passwort geeinigt, wenn er bemerkte, dass einer der IS-Kämpfer sich an eines unserer Geschäfte wandte. Wenn also unser Nachbar das Passwort erwähnte, bedeutete das, dass einer der IS-Kämpfer auf uns zukam – und sofort verwendeten wir die Lufterfrischer zur gleichen Zeit, damit niemand bemerkte, dass wir geraucht hatten.

Abu Abdullah besuchte den Laden weiter, zu unerwarteten Zeiten und manchmal wartete er auf mich an der Tür des Ladens. Wenn ich ihn sah, war ich gezwungen zu lächeln, aber tief in mir brannte es wie Feuer. Wie konnte ich nur eine Morgenzigarette mit meinem Kaffee rauchen, so wie ich es immer gewohnt war?

Ich hatte das Gefühl, dass ich bald die Kontrolle über mich selbst verlieren würde. Der Stress war unerträglich. Die schönsten Arbeitstage waren die, an denen Abu Abdullah für ein paar Tage verschwand. Immer wenn er verschwunden war, fragte ich mich, ob er getötet worden ist? Oder ob er entkommen konnte? Oder hat er das Interesse an mir verloren?

Dann erschien er wieder wie ein Alptraum, so dass der Stress wieder begann. Das Merkwürdigste an der Geschichte ist, dass ich Abu Abdullah überall in der Stadt sah und ich nicht wusste, was seine Arbeit war. Manchmal sah ich ihn auf seinem Motorrad, das ich wie seine Stimme dutzende Meter entfernt erkennen konnte. Sobald ich das Geräusch seines Motorrads hörte, suchte ich nach dem nächsten Versteck, um die Gespräche zu vermeiden, die ich hasste.

Eines Tages fragte er mich nach meiner Religion und fand heraus, dass ich, wie alle Menschen in meiner Stadt, keine tiefe Kenntnis von diesen Angelegenheiten hatte.

Am nächsten Tag kam er und brachte mir ein paar Bücher und sagte mir, dass die Bücher mir helfen würden, einige Dinge über Religion und Dschihad zu verstehen. Ich solle mir dieser Dinge bewusst werden. Er fragte mich auch, wie viel Zeit ich brauchte, um sie zu lesen, weil ich sie ihm zurückgeben musste.

Ich erzählte ihm, dass ich etwa eine Woche brauchte. Zu dieser Zeit besuchte er mich täglich und er fragte mich, ob ich angefangen hätte die Bücher zu lesen. Ich sagte ihm immer ja und nach ein paar Tagen sagte ich ihm, dass ich mit dem Lesen der Bücher fertig war. Aber in Wahrheit habe ich nicht einmal die Titel dieser Bücher gelesen. Bevor Abu Abdullah ging, hatte er mir Folgendes gesagt: Heute ist Donnerstag, dann bekomme ich die Bücher am Samstag also zurück, und danach lass uns diskutieren, um zu sehen, was du alles verstanden hast.

Diese Worte flogen mir um die Ohren wie ein Donnerschlag. Was sollte ich jetzt tun, wie lese ich an einem Tag mehrere Bücher, am nächsten Tag werde ich getestet.

An diesem Tag wurde mir klar, dass ich nicht mehr durchhalten konnte und ich musste eine Lösung finden.

In dieser Nacht sagte ich meiner Mutter, dass ich in die Türkei ausreisen muss. Ich erinnere mich sehr gut, wie sehr meine Mutter weinte und wie traurig sie war. Sie wusste aber, dass ich früher oder später flüchten würde. Sie wollte, dass wir bei ihr bleiben und gleichzeitig wollte sie, dass wir flüchten. Insbesondere nachdem der IS das Gesetz verabschiedet hatte, die Wehrpflicht auf dem Land auch in der Stadt anzuwenden. Ich erinnere mich, dass ich meine Freunde eingeladen hatte, um mich zu verabschieden. Ich erinnere mich, dass ich mich von meinem Nachbarn verabschiedet habe, den ich jeden Tag besucht habe, da er in einem Lebensmittelgeschäft neben meinem Haus arbeitete.

Früher haben wir immer die Ladentür geschlossen, um zu rauchen, Mate Tee zu trinken und den IS zu beleidigen und zu lachen.
Das letzte, was mein Freund und Nachbar zu mir sagte, war: „Sei nicht überrascht, wenn du jemals von mir hörst, dass ich für den IS arbeiten musste, denn ich könnte die Tränen meiner Tochter Sara nicht ertragen, wenn sie hungrig ist. Falls ich keinen Job finden sollte, hätte ich keine andere Option. Der IS hat zumindest Geld.”

Ich weiß nicht, was mit Abu Abdullah passiert ist, aber mein Bruder erzählte mir, dass er am Samstag, welcher eigentlich mein Prüfungstag sein sollte, kam und mich nicht finden konnte. Ein paar Tage später erreichte ich die Türkei, und dann erzählte mir mein Bruder von Abu Abdullahs Reaktion, nachdem er erfahren hatte, dass ich in die Türkei geflohen war. Mein Bruder gab ihm seine Bücher zurück und dann verschwand er wieder. Und so bin ich wegen Abu Abdullah nach Deutschland gekommen.

Viele meiner Freunde starben, einige von ihnen kamen nach Europa und einige von ihnen blieben in der Türkei, während Saras Vater immer noch im selben Geschäft arbeitet und immer noch raucht, Mate trinkt und den IS beleidigt. Er hat niemals für sie gearbeitet.

freiraum #66