Das Sicherheitssystem der DDR. Von Hendrik Malte Wenk

Schwerpunkt


In den alljährlich im Fernsehen ausgestrahlten Dokumentationen über die DDR dominieren stets drei Themen: FKK, Mauer und Stasi. Und in der Tat sind es auch diese Schlagwörter, die den meisten Westdeutschen und Nachwendekindern spontan zur DDR einfallen, ergänzt durch den Trabi und nicht vorhandene Bananen.

Über den vielschichtigen Alltag im Staatssozialismus und die komplexe diktatorische Praxis in der DDR herrschen hingegen kaum konkrete Vorstellungen. Das Bild ist oft schwarz-weiß – und deshalb trügerisch. Denn das Leben – auch in der Diktatur – ist nicht hell oder dunkel, sondern viel eher ein weites, trübes Feld. Für die populärwissenschaftliche DDR-Aufarbeitung gilt leider: Halbwissen statt Bildung. Und deshalb ist es kein Wunder, dass sich so viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse fühlen und mit Resignation und Verachtung reagieren, wenn die „Wessis“ sie bei jeder Erzählung, was in der DDR „besser“ war, als unverbesserliche „Ostalgiker“ hinstellen. Denn die Kritik an der „Diktaturbeschönigung“ geht allzu oft am Kern der Emotionen und persönlichen Erfahrungen vorbei.

Um das klarzustellen: Die SED-Diktatur war ein repressiver Überwachungsstaat, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Aber die DDR besaß auch wohlfahrtsstaatliche Elemente, mit zahlreichen Leistungen für die Bürger. Beide Aspekte werden zumeist getrennt voneinander betrachtet. Die Repression wird von den mutigen Dissidenten betont, die unter der Diktatur litten und sich gegen sie auflehnten, die Wohlfahrtsstaatlichkeit heben dagegen alteingesessene Mitglieder der ehemaligen SED hervor. Doch sind es tatsächlich zwei getrennte Sphären? Nein, beides zusammen formte erst das Sicherheitssystem der DDR, das den Alltag und die zeitweilige Stabilität des SED-Regimes maßgeblich bestimmte. Und dieses Sicherheitssystem war mit seinen vielschichtigen Aspekten äußerst ambivalent.
Um das zu verstehen muss man den Blick von FKK, Trabant, Mauer und Stasi abwenden und sich stattdessen anderen Institutionen zuwenden, die eben nicht schwarz-weiß, aber umso mehr im Alltag der DDR greifbar waren. Eine Institution, welche die Ambivalenz des DDR-Sicherheitssystems nahezu verkörpert, ist die des Abschnittsbevollmächtigten (ABV) der Deutschen Volkspolizei.
Was bitte ist ein Abschnittsbevollmächtigter? Wer sich diese Frage stellt, stammt entweder aus Westdeutschland oder ist nach der Wiedervereinigung geboren. Denn der ABV war ein Angehöriger der Volkspolizei (also der „normalen“ Polizei der DDR), der sozusagen als „Polizist für Jedermann“ einen relativ überschaubaren Abschnitt polizeilich betreute. Bei ihm konnte man Anzeigen aufgeben, er überwachte mitunter den Straßenverkehr und diente den Anwohnern als Ansprechpartner für „Ordnung und Sicherheit“. Er war als sicherheitspolitisches Zugeständnis für die DDR-Bürger stets im Leben des ihm zugewiesenen Wohnabschnittes präsent. Egal wie man ihn wahrnahm, ob als „Trottel in Uniform“, Stasi-Spitzel oder freundlichen Polizeioffizier: Jeder, der die DDR bewusst miterlebt hat, kann eine Geschichte über seinen ABV zum Besten geben.

Doch der Abschnittsbevollmächtigte war auch ein Überwacher. Er observierte „verdächtige Personenkreise“ wie Ausländer, Rückkehrer (also Personen, die schon einmal die DDR verlassen hatten, aber später wieder zurückkehrten), Zugezogene und Menschen, die für besondere Anlässe ihre Familie im Westen besuchen oder die DDR ganz verlassen wollten.

So zweischneidig wie ihr Tätigkeitsfeld wird sich bis heute an die ABV erinnert: entweder als Kümmerer oder als kleiner Bruder der Stasi. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Denn so wie sie Beides waren, so sehr hängen beide Aspekte auch miteinander zusammen. Liest man die Überwachungsberichte der ABV, so fällt auf, dass sie oft Dinge des allgemeinen Auftretens einer Person mitteilten. Das Sozialverhalten in der Hausgemeinschaft, das Arbeitsverhalten im Betrieb und das Verhalten in der Freizeit. Die Berichte sind voll von Meldungen über Alkoholismus, trunkenheitsbasierten Konflikten und „Arbeitsbummelei“. Mit anderen Worten: Probleme, die nicht nur die jeweilige Kontrollperson und den ABV (als den verantwortlichen Polizisten) betrafen, sondern auch zu Lasten aller Menschen in der unmittelbaren Umgebung gingen.

Die ABV hörten sich Beschwerden und Hinweise an und versuchten, Lösungen zu finden. Ihre Anwohner konnten dabei positive Erfahrungen mit ihnen sammeln. So wurden die ABV ein akzeptierter Teil im Leben ihres Abschnittes, obwohl sie offenkundig Vertreter der Diktatur waren. Die Abschnittsbevollmächtigten konnten eine Vielzahl privater Informationen über ihre Anwohner mitteilen: Hobbies, materielle Werte und Details sozialer Beziehungen. Das war möglich, weil die Bürger sie in ihr Leben im Abschnitt ließen, denn so konnten diese die Vorzüge dieser bürgernahen Polizeiarbeit nutzen. Dadurch konnten die ABV effektiv berichten.

In der Polizeiforschung ist dies ein alter Hut. Polizei-Effektivität und Polizei-Legitimität sind keine voneinander unabhängigen Bereiche. Die Polizei ist in ihrer Arbeit immer auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen, diese arbeitet aber nur mit, wenn sie ein positives Bild von der Polizei hat. Je positiver das Image der Polizei, desto größer ist die Bereitschaft der Bürger, sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Bei den ABV und ihrer Überwachungstätigkeit war das genauso. Weil sie einen Nutzen für ihre Anwohner hatten und diese sie deswegen im Abschnitt als Wohngebietspolizisten akzeptierten, waren sie ein hervorragender Informationskanal des SED-Regimes.

Fest steht, dass das Halbwissen, das uns alljährlich im Fernsehen und Rückblicken über die DDR präsentiert wird, nur an der Oberfläche einer Lebenswirklichkeit kratzt, die ganz Ostdeutschland 40 Jahre erfahren hatte und die bis heute die Sicherheitserfahrungen und -erwartungen in Ostdeutschland prägt. In der Aufarbeitung der SED-Diktatur brauchen wir aber Bildung statt Halbwissen, denn die Auseinandersetzung mit Diktaturen ist für die Demokratie essenziell. Aus ihnen geht sie hervor und in diese kann sie auch wieder hinabgleiten. Demokraten müssen diejenigen Dynamiken aufarbeiten, die Diktaturen ermöglichen, stabilisieren und zeitweilig sogar „attraktiv“ machen. Nur so können wir verstehen, warum Menschen die Unfreiheit verklären, sich zurückwünschen und mitunter mit freiheitlich-demokratischen Prozessen hadern, so wie es derzeit wieder, nicht nur in Ostdeutschland, in hohem Maße geschieht. Es ist von elementarer Bedeutung, die alltäglichen Gefühls- und Erfahrungswelten in Diktaturen zu erfassen. Nur wenn wir uns den ambivalenten Lebenswirklichkeiten in Diktaturen stellen und ihre Auswirkungen im Leben des Einzelnen begreifen, erhalten wir das nötige Rüstzeug, um den freiheitsfeindlichen Rattenfängern entgegenzutreten und sie in ihre Schranken zu weisen. Geschichtliches Halbwissen dagegen können wir uns im Kampf für die Freiheit nicht leisten.

freiraum #66