Warum es in der Schule immer noch an Fairness mangelt. Von Evita Schäfer

Schwerpunkt


„Jungs können das irgendwie einfach besser.“ Als ich mit 17 Jahren diesen Satz hörte, habe ich mir zunächst nicht sonderlich viele Gedanken darum gemacht. Es ging um ein Referat und die Frage, was genau die Gruppe vor uns besser gemacht hat, sodass sie eine ganze Note besser erhalten hatte. Jetzt, gute ganze fünf Jahre später, geistert mir dieser Satz immer noch im Hinterkopf herum. Nicht weil ich gerne eine bessere Note für mein Englischreferat bekommen hätte, sondern weil dieser leichtsinnig geäußerte Satz von meiner Englischlehrerin auf einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen hat. Er steht sinnbildlich dafür, dass Schülerinnen und Schüler immer noch oft in Schubladen gesteckt werden, die ihnen manchmal einen Vorteil bringen können, aber eben auch ganz oft einen erheblichen Nachteil. Diese Schubladen müssen nicht nur das Geschlecht beinhalten, sondern können auch die ethnische Herkunft, den sozioökonomischen Status (SÖS) oder auch den Glauben der Schülerinnen und Schüler sein. Der Nachteil, den diese durch diese Kategorisierung erfahren, ist auf mehreren psychologischen Ebenen zu erklären.

Der interpersonale Erwartungseffekt, auch Rosenthal-Effekt genannt, beschreibt das Phänomen, dass sich die Person gegenüber genauso verhält, wie man es von ihr erwartet. Wie kommt das zustande? Sagen wir Frau S. erwartet, dass zwei Jungs eine bessere Leistung erbringen als zwei Mädchen. Achtung: Das muss nicht heißen, dass sich Frau S. ihren Vorurteilen komplett bewusst ist. Vorurteile und Stereotype können unterbewusst ganz fest verankert sein und müssen sich keinesfalls immer in direkten Aussagen äußern. Zurück zum Beispiel: Dass diese Jungs am Ende des Schuljahres eine bessere Leistung abliefern werden, liegt nicht an ihrem Geschlecht. Es liegt an den Komponenten, die dadurch zustande gekommen sind, dass Frau S. von Anfang an höhere Erwartungen an sie hatte. Durch diese Erwartungen entsteht vor allem gegenüber den Jungs ein wärmeres Klima. Zusätzlich bekommen sie mehr Input von der Lehrerin (mehr Material, mehr Übungsaufgaben) und haben gleichzeitig öfter die Möglichkeit, ihr Wissen zu beweisen (Output), da Frau S. sie zum Beispiel öfter aufruft oder ihnen mehr Zeit für ihre Antwort gibt. Zuletzt bekommen die Jungs bei Verbesserungsmöglichkeiten auch ein deutlich differenzierteres Feedback.

Dieses Beispiel kann natürlich auch umgedreht werden und es werden Mädchen bevorzugt. Oder man tauscht die Kategorien Mädchen und Jungs durch niedrigen und hohen SÖS aus. Nahezu überall, wo es Erwartungen gibt, kann dieser Effekt auftreten und unsere Erwartungen werden wiederum oft von unseren (unbewussten) Vorurteilen und Stereotypen gelenkt.

Stereotype können bei Schülerinnen und Schülern auch den Effekt der „Bedrohung durch Stereotype“ (im Englischen „Stereotype Threats“) auslösen. Bei diesem Prozess wird die tatsächliche Leistung der Schülerin oder des Schülers beeinträchtigt, weil sie oder er Angst hat, die Stereotype, die einem zugeschrieben werden, zu erfüllen. Diese Angst besetzt nämlich Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses und führt zu einer merklich schlechteren Leistung. Es gibt mehrere Ansätze, um dies zu verhindern. Der Effekt wird beispielsweise dadurch verringert, dass sich eine Person gar nicht erst in eine Schublade gesteckt fühlt. Wenn man als Lehrer also Mädchen gegen Jungs antreten lässt, tut man sich zwar leichter bei der Aufteilung, verstärkt aber gleichzeitig im Bewusstsein der Kinder die Kategorien, in die sie immer wieder eingeteilt werden. Besonders in Fächern, bei denen das Geschlecht mit einer bestimmten Begabung assoziiert ist (beispielsweise „Jungs sind besser in Physik“), kann man dadurch den Effekt der „Bedrohung durch Stereotype“ auslösen.

Hiermit ein Appell an alle angehenden und bestehenden Lehrerinnen und Lehrer: Auch wenn ihr keine bewussten Vorurteile und Stereotype habt, schadet es nie, sich einmal Gedanken zu machen, ob man nicht vielleicht wirklich in der ein oder anderen Hinsicht in Kategorien und Schubladen denkt. Das ist nur menschlich und in einem überfüllten Klassenraum bestimmt nicht das größte Problem, aber mit ein bisschen mehr Bewusstsein für Alltagssprache und das täglicheVerhalten gegenüber den eigenen Schülerinnen und Schülern kann man schon große Auswirkungen haben und zu mehr Fairness gegenüber seinen den Schülerinnen und Schülern beitragen.

freiraum #66