Ulf Poschardt „Mündig. Eine Rezension von Konrad Steinhäuser

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Ulf Poschardt versteht sich auf die Provokation. Der Appell, man solle sich f*****, mit dem er das Buch beginnt, könnte aber zur Annahme verleiten, dass er sich nur auf die Provokation verstünde, und darin würde man irren.

„Der Anarchist ist der radikale Bruder des Liberalen“, schreibt Poschardt. Manchmal scheint es, als changiere er zwischen den Geschwistern hin und her. Eigenverantwortung, Mut, die Bereitschaft, aus den gegebenen Umständen das Beste zu machen, die Ablehnung des Populismus von rechts und des Paternalismus von links und nicht zuletzt die Bereitschaft zu lernen, für die er auf Karl Poppers Kritischen Rationalismus Bezug nimmt, das sind von ihm vertretene Werte, die unter liberalen Köpfen kaum zur Diskussion stehen dürften. Schreibstil, Selbstdarstellung und Themenwahl betreffend touchiert Poschardt aber fortwährend Grenzen. Poschardt mag es schillernd, er polarisiert gern und bewusst. Das betrifft auch seinen Mut zur Lücke. Ein zeitgemäßer Liberalismus positioniert sich zwischen bürgerlichen Abwehrrechten, politischen Teilhaberechten und sozialen Anspruchsrechten. Dabei gibt er den bürgerlichen Abwehrrechten den Primat, ohne die beiden anderen Grundrechtsformen zu missachten. Es ist eine naheliegende, aber vielleicht wenig zielführende Kritik, darauf hinzuweisen, dass „Mündig“ weniger das Mündigwerden, den Ausweg aus Zwangslagen oder die Notwendigkeit von Kompromissen thematisiert, sondern einzig das Wirken mündiger Musterexemplare. Will man dem Werk gerecht werden, ist es hilfreich, es so zu verstehen: als eine Expedition an die äußerste Grenze, an das Höchstmaß des Mündigen. Auf diesem Wege bildet Poschardt in seinem sechzehnteiligen Buch über Skizzen mündiger Idealtypen wie dem mündigen Liberalen, dem mündigen Demokraten oder dem mündigen Linken ein Verständnis der Freiheit ab, das durchaus philosophische Relevanz hat.

Poschardt schreibt nicht direkt von Freiheit, er schreibt von Mündigkeit. Dabei gibt er dem Begriff der Mündigkeit über eine gelungene Interpretation der Überlegungen Adornos einen appellativen Charakter. Die Mündigwerdung des Menschen findet in dieser Interpretation einen Anfangs-, aber keinen Endpunkt. Man hat den Eindruck, als wolle er den Begriff der Freiheit, der sich im philosophischen wie im politischen Feld so vieler Verdrehungen und Irrungen zu erwehren hat, gewissermaßen performativ und über Bande begradigen. Er thematisiert Freiheit indirekt über Mündigkeit, und er vollzieht einen Akt der Freiheit über seinen freiheitlichen Stil. Damit entgeht er geschickt den Fallstricken, die jedem Philosophen begegnen, der das kontrovers diskutierte Feld der Freiheit zu betreten wagt: den Verwechslungen von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsvollzügen, dem Verhältnis zur Selbstverwirklichung, den Vorstellungen kollektiver Freiheiten und ähnlich heiklen Stolperfallen.

Zunächst stellt er fest, dass unsere Kultur eine Tendenz zum Paternalismus hat. Der automobilaffine Autor findet die Vorstellung von Fahrzeugen, die dem Fahrer, insofern er nicht nüchtern und entspannt ist, den Start unmöglich machen, nachvollziehbarerweise ebenso unangenehm wie Gängelung in Konsum, Sport und Bildung. Doch dabei bleibt es seiner Problemanalyse nach nicht. Neu sind nicht unterkomplexe Antworten, Dummheit und unnötige Verbote, neu ist, so Poschardt, dass sich immer mehr Menschen auf ihre Entmündigung freuen.

Dem stellt er sich damit entgegen, dass er so über mündige Menschen schreibt, dass man sich dazu ermutigt fühlt, selbst ein solcher mündiger Mensch zu sein. Es ist ein mutiger, frecher Stil mit professoralen Facetten, manchmal geht er vielleicht ein bisschen zu weit. Man erkennt Poschardt beim Lesen als mündigen Intellektuellen. Er hat große Sympathie für die Abweichler, die Mutigen, für jene Verlierer, die keine bleiben wollen. Mit Bezug auf die kantische Wendung des krummen Holzes der Humanität macht er deutlich, dass der mündige Mensch bei sich beginnt und Verantwortung für die eigenen Schieflagen zu tragen bereit ist, vielleicht sogar mit Stolz.

Der herausfordernden Seite des Liberalismus, nämlich der Verantwortung, mit der hochgeschätzten Freiheit und Offenheit umzugehen, begegnet Poschardt zum einen mit den gebotenen Idealtypen, zum anderen aber – und das ist das wirklich originelle Moment des Buches – mit der Metapher des Drifts.

Der Drift, dieses kontrollierte Ausbrechenlassen des Fahrzeuges in der Kurve, ist manchmal, wenngleich nicht immer, der beste, schnellste und effektivste Weg, um eine solche zu nehmen. Der Drift ist riskant, er setzt Können voraus, und vor allem: Der Drift ist eine Technik. Über die Driftmetapher als Daseinsmethode des Mündigen beantwortet Poschardt die unlösbare Frage nach dem richtigen Vollzug der Freiheit mit einer Methode. Er sagt nicht was, sondern wie. Dabei weiß er natürlich, dass der ständige Drift nicht durchzuhalten wäre. Es geht um das Erweitern und Erproben von Kenntnissen und Möglichkeiten, um das Bestehenbleiben des Interesses und der Bereitschaft zur Herausforderung. Freiheit, Individualismus, Toleranz und Pluralismus bleiben von dem Vorschlag dieser Lebensmethode unbenommen. Poschardt balanciert zwischen Beschreibung und Handlungsempfehlung, einen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen macht er nicht.

Jeder setzt seinen Driftwinkel anders, schreibt Poschardt. Das kann man als riskante, hemdsärmelige und trotzdem wendige Art verstehen, einen praktischen Bezug zur Freiheitsfrage zu entwickeln. Dieser Drift ist geglückt.

Ulf Poschardt. Mündig. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. Gebunden, 271 Seiten, 20,00 EUR

freiraum #66