Ein Plädoyer für die Grundlagenarbeit mit politischen Ideen, um die Zukunft im Sinne liberaler Überzeugungen prägen zu können. Von Christian von Falkenhausen.

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Im allgemeinen Verständnis liegt politischen Entscheidungen eine besondere Qualität zugrunde. Vereinfacht gesagt, versteht man darunter meist die sachgerechte Lösung eines Problems. Fragt man Politiker, warum sie sich das antun, wird man diesen Satz sinngemäß häufig hören; die meisten Wähler dürften ihm zustimmen. Auch in der Forschung folgte man, vereinfacht gesagt, lange Zeit einem rationalen Prozessverständnis: Probleme werden identifiziert, Lösungen erarbeitet und entsprechend umgesetzt. Doch schon ein Gespräch mit Politikern verschiedener Parteien führt einem vor Augen, dass die Realität so einfach nicht ist: Denn was das Problem sei und wie die Lösung auszusehen habe, ist meist strittig. Dies mag niemanden überraschen – wir verstehen dies in der Regel als Ausdruck parteipolitischer Differenzen, normativer Unterschiede oder schlicht der Unfähigkeit des Andersdenkenden, die Dinge „richtig“ zu sehen; wobei richtig dann immer das ist, was man selbst für geboten hält. Aber was bedeutet es dann die Wähler im Wahlkampf zu überzeugen? Als Liberale kennen wir diese frustrierenden Auseinandersetzungen bei denen wir mit Inbrunst an Überzeugung für liberale Ideen werben, aber häufig auf kaum mehr als Unverständnis treffen und resigniert feststellen müssen, dass viele Wähler andere Ideen irgendwie attraktiver, ansprechender finden, ohne dass sie es manchmal selbst so richtig erklären können: Globalisierung und Handelsliberalisierung; Klimaschutz und Energiewende; Steuern und soziale Gerechtigkeit; Einwanderung und offene Gesellschaft; Privat vor Staat. Manche sehen die Lösung darin, verstärkt auf Werbung und Öffentlichkeit zu setzen – dies scheint plausibel, wenn es beispielsweise um kurzfristige Wahlentscheidungen geht. Was aber wäre, wenn wir außerdem den Optionenraum politischer Ideen prägen könnten, lange bevor er bei tiktok tanzt oder uns als Chlorhühnchen angrinst? Ich behaupte, die Attraktivität liberaler Ideen in der gesellschaftlichen Debatte führt über einen Weg zurück zu diesen, lange bevor sie von der Politik aufgegriffen werden. Wollen wir die Zukunft unabhängig von politischen Mehrheiten im Sinne liberaler Ideen gestalten, müssen die Menschen diese auch „aus dem Bauch heraus“ für richtig erachten. Dafür ist jahrelange Vorarbeit notwendig.

Grob vereinfacht gibt es zwei Arten politischer Entscheidungen: Problemlösung und Parteipolitik. Im ersten Fall rückt ein Problem schlagartig in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, andere Themen werden überlagert. Die Regierung gerät unter Handlungsdruck, kann aber ihre exekutive Position ausspielen. Die Wähler erwarten eine zweckmäßige Lösung des Problems, wie es sich ihnen in der öffentlichen Debatte präsentiert: man denke an Eurokrise, Schuldenkrise, Corona, aber auch an den Atomausstieg nach Fukushima oder die Ölkrisen der Siebziger. Im zweiten Fall wird eine Regierung ins Amt gewählt und sieht sich als Reformregierung legitimiert. Dann ist die Zeit gekommen, endlich das zu tun, wofür man lange gekämpft hat und was die Anhänger von einem erwarten: man denke an die neue Ostpolitik, den rot-grünen Atomausstieg oder die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke 2010; aber auch an Reformvorhaben, die angekündigt waren, im Regierungsalltag aber nicht realisiert wurden (Merkel 2005, Steuerreform 2009).

In beiden Fällen spielt die Zeit eine entscheidende Rolle: Erstens ist die Verarbeitungskapazität von Politik und Gesellschaft beschränkt. Insbesondere weitreichende Reformen können nur seriell bearbeitet werden, so dass eine Rangfolge entsteht und aufgeschobene Vorhaben Gefahr laufen, zum Spielball externer Einflüsse zu werden: eine Landtagswahl wird verloren, ein Minister muss gehen. Zweitens ändert sich die Problemagenda stetig und unvorhergesehen. Was heute noch bedeutsam ist, kann morgen schon überholt sein. Ständig muss sich die Politik anpassen und analysieren, was gerade vordringlich ist: eine Wirtschaftskrise leert die öffentlichen Haushalte, eine Katastrophe passiert, neue Erkenntnisse stellen bisheriges in Frage. In beiden Fällen – Problemlösung und Parteipolitik – ist man von externen Einflüssen abhängig, die man nur begrenzt kontrollieren kann. Probleme kommen und gehen, Wahlumfragen verändern sich. Fast alle Regierungen mussten sich mit ganz anderen Themen beschäftigen, als sie ursprünglich geplant hatten: Man denke an die Ölkrisen, die Wiedervereinigung, Rekordarbeitslosigkeit unter Rot-Grün, die Finanz- und Eurokrise, Fukushima, die Flüchtlingskrise oder Corona.

Berücksichtigt man die Rolle der Zeit, so reduziert sich politisches Entscheiden auf eine ad hoc Verbindung von Lösungen zu Problemen, die im Extremfall rein zufällig sein kann. Ob die „Lösung“ das Problem tatsächlich beseitigt, ist eine sekundäre Frage – entscheidend für die Regierung ist zunächst, dass man etwas tut, dies in den Augen ihrer Wähler halbwegs plausibel ist oder die Umstände keine andere Lösung zulassen. Was in einer Entscheidungssituation jedoch adäquat, plausibel, sinnvoll, richtig oder einzig machbar erscheint, ist das Ergebnis vorheriger sozialer Konstruktion durch Politische Unternehmer; jene Akteure, die sich bestimmten Ideen verschrieben haben. So ist beispielsweise zu erklären, warum Ideen, die wir längst in der Mottenkiste politischer Vorhaben vergraben dachten, plötzlich wieder auf der Bühne erscheinen können. Auch der größte Unsinn kann (wieder) reüssieren, wenn es Politischen Unternehmern gelingt, erfolgreich zu sein – nicht ökonomische Modelle, stringente Beweisführung oder vermeintlich rationale Argumente sind entscheidend, sondern vor allem die Art und Weise der Präsentation und die entsprechende Verankerung in der gesellschaftlichen Debatte; das Narrativ einer Idee entscheidet über deren Attraktivität. Maßgeblich für das Aufgreifen einer Lösung in einer politischen Entscheidungssituation sind dann im Wesentlichen zwei Faktoren: Erstens, die Verfügbarkeit einer hinreichend ausgearbeiteten Alternative; zweitens, deren relativ positive Perzeption in der Wählerschaft. Es sind insbesondere zeitliche Umstände und die Qualität der Vorarbeit politischer Ideen, die bestimmen, welche Richtung politischer Wandel nimmt. Politiker agieren meist nur innerhalb dieses Optionenraums. Hier liegt die Quelle der Alternativlosigkeit.

Wollen wir die Zukunft im Sinne liberaler Ideen gestalten, so müssen wir zurück zu den Ideen bevor wir uns deren politischer Umsetzung widmen: Wahlen entscheiden, wer politisch entscheidet; Politiker verschiedener Parteien haben unterschiedliche Grundüberzeugungen und bevorzugen unterschiedliche Ideen. Aber wenn der Optionenraum politischer Ideen vor einer Entscheidung mit dezidiert liberalen Ideen gefüllt werden konnte und diese in der Bevölkerung entsprechend beworben wurden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise eine Regierung, die sich eher politisch links verortet, Entscheidungen trifft, die – wenngleich nicht der reinen Lehre, so doch in ihrer Grundtendenz – jenen Ideen aus dem Optionenraum nahekommen. Es ist nicht Beliebigkeit, Boshaftigkeit oder Verschwörung, wenn Regierungen Entscheidungen treffen, die nicht den von ihnen erwarteten entsprechen, sondern Ergebnis der Vorarbeit durch Politische Unternehmer: Eichels Steuerreform, Schröders Agenda-Reformen, Steinbrücks Unternehmenssteuerreform, Merkels Atomwende.

Mir scheint, dass dies häufig ignoriert wird. Ich vermute zweierlei Gründe: Erstens widerspricht es dem Selbstverständnis vieler politischer Akteure, für Ideen zu stehen, deren Urheber sie (oder ihre Partei) nicht sind; es widerspricht dem Bild, das sie von sich in der Öffentlichkeit zeichnen müssen, um gewählt zu werden. Zweitens begünstigt die Dynamisierung der Mediennutzung campaigning. Wenn alle auf Facebook, Instagram oder tiktok setzen, glaubt man, dies ebenfalls tun zu müssen, um Aufmerksamkeit zu attrahieren. Man sollte aber bedenken, dass damit „nur“ die Ebene politischer Auseinandersetzungen bespielt wird. Campaigning wirkt kurzfristig: Es kann den Ausgang konkreter Entscheidungen (oder Wahlen) durch Lenkung von Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt und durch Aktivierung von Emotionen unter Umständen erheblich beeinflussen; dafür ist es ein adäquates Mittel. Doch das Chlorhühnchen war als Kampagne erfolgreich, weil sich bereits zuvor eine negative Perzeption von Globalisierung und Handelsliberalisierung hatte ausbreiten können. Aufmerksamkeit ist jedoch flüchtig und schafft allein noch keine dauerhafte Bindung, weder an Ideen noch an Parteien; vor allem dann nicht, wenn alle Akteure ihren Kampf um Aufmerksamkeit intensivieren („Aufmerksamkeitsfalle“).

Wie aber füllt man den Optionenraum? Hier wird es kompliziert; ein Patentrezept gibt es nicht – aber es gibt erfolgversprechende Anhaltspunkte, die ich knapp skizzieren möchte:

  1. Zusammenwirken beharrlicher Akteure: Jede Idee braucht Politische Unternehmer, die sich ihnen voll und ganz verschreiben, unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen und dabei über ein je spezifisches Geschick verfügen: Detailarbeit im stillen Kämmerlein; Austausch mit Experten; Bekanntmachung der Ideen in Gesellschaft, Medien und Politik. Niemand (auch keine Organisation) kann die Ideenentwicklung strategisch steuern oder alleine alles machen. Erfolgreiche Ideen sind das „Marktergebnis“ impliziten Zusammenwirkens ähnlich denkender Unternehmer, die sich häufig persönlich kennen, austauschen, kritisieren und somit stimulieren. Im Idealfall sind sie bereit, persönliche Animositäten und Rivalitäten zu überwinden.
  2. Gemeinsame Grundüberzeugungen: Es braucht einen gemeinsamen Kern an Grundüberzeugungen und die Bereitschaft, manche Unterschiede im Detail zu akzeptieren. In der öffentlichen Debatte werden vor allem die grundlegenden Fragen und das Narrativ eine Rolle spielen, seltener die Details.
  3. Detaillierte Entwicklung einer machbaren Alternative: Ideen, müssen zugleich aber in einer angemessenen Detailtiefe erarbeitet sein, um als plausible Alternative bei politischen Entscheidungen gelten zu können; die Knappheit der Zeit erschwert es, Detailfragen erst dann zu klären. Schon lange vorher sind Fragen der technischen, finanziellen und juristischen Machbarkeit zu klären, sollte die Wertakzeptanz unter Experten und in der Gesellschaft berücksichtigt werden und man sollte sich Gedanken zum (potentiellen) Widerstand von Interessengruppen und der Anschlussfähigkeit an inhaltliche (Grund-)Überzeugungen politischer Akteure machen. Auch hier gilt, dass die Kriterien der Machbarkeit eine soziale Konstruktion sind: Wichtig ist, dass sie gegenüber der Öffentlichkeit plausibel und nachvollziehbar dargelegt werden können und beispielsweise keine negativen Folgen in der Zukunft zu erwarten sind. Ob eine Idee jedoch beispielsweise finanzierbar ist, hängt letztlich nur davon ab, mit welchen Konsequenzen man rechnet und wie weit man zu gehen bereit ist.
  4. Gesellschaftliche Rückkopplung und Diffusion in die Populärliteratur: Ideen profitieren erheblich von ihrer Rückkopplung in die Gesellschaft. Sie sollten in der Lage sein, aktuelle Fragen (Probleme) aufzugreifen und anschlussfähig an Bewegungen sein. Es hilft, wenn sie in der Populärliteratur positiv aufgegriffen werden und es sichtbare Fürsprecher in den Medien oder unter Prominenten gibt. Erfolgreiche Kinderbücher oder Bestseller sind nicht zu unterschätzen.
  5. Eine (personale) Anbindung an die Parteien: Auch wenn Parteien selten Urheber von Ideen sind, so sind beispielsweise die Programmparteien westeuropäischer Prägung stärker in die Ideenentwicklung involviert als ihre US-amerikanischen Pendants. Insbesondere der Kontakt zu Fachpolitikern kann ein wichtiges Verbindungsglied sein. Dabei gilt, dass erfolgreiche Politische Unternehmer gerade nicht unbedingt ein politisches Mandat anstreben sollten. Meist sind sie besser in ihrer Rolle als Ideengeber in den Medien oder als Aktenkenner unter Experten. Vielmehr können auch Parteien davon profitieren, auf verschiedene Multiplikatoren außerhalb ihrer Sphäre zurückgreifen zu können, die gerade auch deshalb glaubwürdig sind, weil sie es wagen, die Politik zu kritisieren, und primär als Identifikationsfigur für eine Idee stehen.
  6. Austausch: Politische Unternehmer brauchen unterschiedliche und wiederkehrende Anlässe zur Interaktion: Sie müssen ihre Ideen gemeinsam weiterentwickeln und sich untereinander austauschen können; außerdem brauchen sie eine Bühne für öffentlichkeitswirksame Präsentationen. Notwendig sind dazu sowohl ein Austausch hinter verschlossenen Türen, damit neue Gedanken abseits öffentlicher Aufmerksamkeit und politischer Opportunität erwogen werden können, als auch medienwirksame Events. Bis heute ist kaum bekannt, dass die Kernidee der Hartz-Reformen, die Zusammenlegung von Arbeitslosen und Sozialhilfe, maßgeblich auf einen Austausch hinter verschlossenen Türen abseits der Aufmerksamkeit ab 1999 bei der Bertelsmann-Stiftung zurückgeht.
  7. Es braucht Zeit, vielleicht sogar sehr viel Zeit: Friedrich August von Hayeks Empfehlung an Anthony Fisher, das Institut of Economic Affairs zu gründen, anstatt in die Politik zu gehen, geht auf das Jahr 1947 zurück. In den folgenden dreißig Jahren versuchte das Institut, die öffentliche Debatte zu beeinflussen, konnte aber erst ab 1979 Einfluss auf die Reformpolitik Thatchers nehmen; war dann allerdings sehr erfolgreich. Ebenfalls rund 30 Jahre dauerte es, bis UNION und FDP den Terminus und die prinzipielle Ausgestaltung einer Energiewende übernahmen, welche das Öko-Institut in ihrem Kern schon 1980 in die Welt gebracht hatte.
  8. Geld, Überzeugung und Leidenschaft. Ideenentwicklung kostet Zeit und Geld; sie braucht leidensfähige Überzeugungstäter. Politische Unternehmer müssen ihren Lebensunterhalt bestreiten können und gerade für jene, die mit neuen Ideen bestehende Überzeugungen angreifen, ist Wissenschaft und Forschung häufig ein schwieriges Pflaster. Wer in den Siebzigern die Kernenergie kritisierte, hatte weder in der Wissenschaft noch in (halb-)staatlichen Forschungseinrichtungen sonderlich gute Karrierechancen; und zwar selbst dann nicht, wenn er seine Kritik sehr gut begründen konnte (und recht behalten sollte). Zu groß war die Angst der etablierten Akteure, staatliche Finanzzuwendungen zu verlieren. Da lebte es sich besser, kritische Gedanken erst gar nicht zu Wort kommen zu lassen. Neu gegründete ökologische Institute fingen diese Kritiker auf und entwickelten sich über Jahre hinweg zu einflussreichen Akteuren, die zum Teil noch heute existieren. Persönliche Überzeugung, das richtige zu tun, motivierte nachhaltig, sich auch gegen Widerstände und trotz ökonomischer Widrigkeiten zu behaupten. Die deutschen Kernkraftwerke wurden jedenfalls erst dann besonders sicher, als jene Kritiker begannen, sich mit komplizierten technischen Details zu beschäftigen, und vor die Verwaltungsgerichte zogen. Aber dies ist eine andere Geschichte.

Christian von Falkenhausen war Promotionsstipendiat der FNF und erforscht die Bedingungen politischen Wandels am Beispiel der Kernenergiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist seit Juni 2017 Geschäftsführer des VSA. Der Text basiert auf seinen Forschungserkenntnissen und gibt seine persönliche Meinung wieder.

freiraum #67