Anne-Marie, eine Hure a.D. berichtet vom "Leben unterm Radar". Von Hendrik Korb

Schwerpunkt


Die Freie und Hansestadt Hamburg – Deutschlands Tor zur Welt: Vor allem sind das die über 1,8 Millionen Menschen aus allen Erdteilen, die in der brückenreichsten Stadt Europas und zweitgrößten Stadt Deutschlands an Elbe, Alster und Bille leben. Hamburg, das ist der drittgrößte Hafen Europas mit einer über 800 Jahre alten Hafentradition, der weltweit drittgrößte Standort der Luftfahrtindustrie und als alte Hanse- und Handelsmetropole der Standort mit den weltweit drittmeisten Konsulaten. Hamburg, das ist das alte Wahrzeichen der Stadt, die Hauptkirche St. Michaelis (der „Michel“), sowie ihr neu hinzugekommenes Wahrzeichen, die Elbphilharmonie, und noch vieles mehr. Und Hamburg ist „der Kiez“, das jahrhundertealte Vergnügungsviertel rund um die berühmte Reeperbahn. Gerade letzteres ist wohl eine Hamburger Besonderheit, die es so in fast keiner anderen Stadt der Welt gibt: Da finden sich wohlbehütet und überwacht vom Polizeikommissariat Davidwache edle und weniger edle Kneipen, Bars und Restaurants, Musik-Clubs, Museen und Theater in trauter Nachbarschaft Seit an Seit mit allerlei Erotik-Shops, Burlesque- und Tabledance-Bars sowie Beschäftigten und Einrichtungen des „ältesten Gewerbes der Welt“. Neben dem Hamburger Publikum kommen natürlich auch viele Touristinnen und Touristen oder zeitweise in Hamburg Arbeitende hierher. Zu den auch überregional bekannteren Attraktionen des Hamburger Rotlicht-Gewerbes gehört dabei die Herbertstraße. Das ist jene mit schweren Sichtblenden abgesperrte kleine Seitengasse, in der sich zahlreiche Bordelle befinden und entsprechende Dienstleistungen angeboten werden. Allein schon durch diese räumliche Nähe rund um die Reeperbahn besteht viel Kontakt zwischen Rotlicht-Milieu und „Alltagswelt“. Eine Verdrängung nach dem Motto „Aus den Augen – aus dem Sinn“ ist also kaum möglich. Dennoch bleiben selbst hier in Hamburg die meisten dieser Menschen und ihre Schicksale oftmals „unterm Radar“. Das hat sich nicht zuletzt wieder in der Corona-Krise gezeigt.

Mitte August haben die Hamburger Jungen Liberalen (JuLis) über einen ihrer FDP-Bezirksabgeordneten aus Hamburg-Mitte eine Führung in der Herbertstraße organisiert. Als „JuLi-Opa“ durfte ich auch daran teilnehmen. Im Bürgerschafts-Wahlkampf zu Jahresbeginn hatte ich noch – wie auch viele andere Kandidaten – via abgeordnetenwatch.de eine Frage einer Bürgerin zum Umgang mit dem dortigen Sichtschutz beantworten dürfen; auch das ein Hinweis darauf, dass in Hamburg einige Uhren eben anders ticken als in anderen Städten. Nun hatte die Initiative „Sexy Aufstand Reeperbahn“, die bereits im Juli relativ medienwirksam auf das Schicksal der vielen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter im Corona-Lockdown hingewiesen hatte, dazu eingeladen, einen Blick hinter eben jene Kulissen der Herbertstraße zu werfen und dabei ihr Hygiene-Konzept vorzustellen. Dieses sollte – so die Hoffnung der Initiative – eine kontrollierte Wiedereröffnung der seit Beginn des Lockdowns geschlossenen Bordelle ermöglichen.

Hauswirtschafterin Anne-Marie hat sich nach der Führung auf meine Anfrage hin bereit erklärt, etwas für diese freiraum-Ausgabe zu schreiben. Nachfolgend nun ihr Bericht vom „Leben unterm Radar“:

Mein Name ist Anne-Marie und mein Leben war das Leben einer Hure auf St. Pauli. Gearbeitet habe ich überall: In Clubs, Bars, auf der Straße, im Eros-Center – und die meiste Zeit in der Herbertstraße. Warum habe ich über 30 Jahre aktiv im Rotlicht-Milieu als Prostituierte gearbeitet? Zum einen, weil ich ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Das bedeutet, ich wollte stets selbst entscheiden, wo und wie viel Zeit ich für meine Arbeit aufwenden möchte. Ich wollte nie zu Jahresbeginn einen Urlaubsantrag bei irgendeinem Chef einreichen und darauf hoffen, dass er diesen genehmigt. Ich wollte Urlaub machen, wann es mir gefällt. Zum anderen wollte ich leistungsorientiert bezahlt werden: Viel Arbeit – viel Geld, wenig Arbeit – wenig Geld. Kurzum: Ich wollte mein eigener Boss sein. Im Laufe meiner Karriere stellte ich fest, dass ich in einem gesellschaftlich systemrelevanten Beruf arbeite – auch wenn das viele ganz anders sehen. Dazu später mehr. Ich habe schon als Hure gearbeitet, als es noch ausgewiesene Sperrbezirke in Hamburg gab. Dort war die Prostitution verboten. In dieser Zeit verdiente man das meiste Geld. Wenn man erwischt wurde, gab es zwar ein Bußgeld, aber eine weitere strafrechtliche Verfolgung von zwei erwachsenen Menschen, die gemeinsam Sex haben, war ja kaum möglich. Danach kamen viele Jahre, in denen die Prostitution geduldet war, also weder verboten noch ausdrücklich legal. Das waren die goldenen Jahre. Der Nachteil bestand lediglich darin, dass es schwer war, krankenversichert zu sein. Außerdem förderte dieser Zustand die Ausweitung von Prostitution und Zuhälterei, was allerdings geahndet und hart bestraft wurde. Irgendwann wurde dann für die Legalisierung der Prostitution gekämpft – auch zum Schutz der Huren. Was kam dabei letztendlich heraus? Die Prostituierten mussten sich offiziell als Gewerbetreibende anmelden und registrieren lassen, bekamen einen „Hurenpass“ sowie die Auflage einer wöchentlichen medizinischen Untersuchung. Und: Sie wurden Steuerzahlerinnen. Geändert hat all das für uns Prostituierte kaum etwas. Wir wurden und werden weder gesellschaftlich anders beurteilt als zuvor noch gehören wir überhaupt zur Gesellschaft. Wir sind und bleiben immer irgendwie Außenseiter. Es bleibt das Bild von uns als den armen, ausgebeuteten Frauen. Die, die gezwungen, geprügelt und ausgenutzt werden. Doch so sieht die Wahrheit meistens gar nicht aus. Natürlich gibt es solche Fälle und Zwangs-, Armuts- und Beschaffungs-Prostitution. Aber es gibt auch die Polizei, LKA und BKA, die SoKo Rotlicht und den Zoll. Alles staatliche Institutionen, die dafür bezahlt werden, solche Fälle aufzuspüren, zu ahnden, zu bestrafen und zu verhindern. Es gibt zwar immer wieder schwarze Schafe, aber in welcher Branche gibt es die nicht? Auch in der Politik, bei Polizei und Bundeswehr oder in Krankenhäusern mit Transplantationszentren gibt es Fälle von Korruption, Lügen, Missbrauch und Vorteilnahme im Amt. Deswegen sind aber doch all diese Branchen nicht gänzlich schlecht. Das Schlimmste an meinem Beruf war und ist es, wenn solide Hausfrauen befragt werden, wie sie den Beruf der Hure sehen. Häufigste Antwort: „Oh mein Gott, wie furchtbar! Wenn das meine Tochter wäre! Das müsste verboten werden!“ Aber warum hat uns Prostituierte nie jemand danach gefragt? Mein Alltag ist kaum anders als der all der anderen Menschen. Ich schlafe, koche und esse. Ich habe Familie, Freunde und Hobbys. Ich mache Sport, fliege in den Urlaub und ich gehe zur Arbeit. Allerdings kann ich entscheiden, wann, wo und wie lange ich arbeiten möchte. Klar gibt es Regeln – wie überall, denn Menschen müssen geführt werden, sie brauchen eine gewisse Ordnung. Aber diese Regeln sind ganz anders, als manch einer sich das vorstellen mag. Zu diesen Regeln gehören auch Kontrollen und Überprüfungen durch staatliche Institutionen wie Polizei und Zoll. Die melden sich in unserer Branche selbstredend nicht vorher an. Sie sind urplötzlich da und stehen vor der Tür – und das sehr häufig. Das ist auch richtig und wichtig, um wie in dem Märchen „Aschenputtel“ die Guten von den Schlechten zu trennen. Mich ärgert als angemeldete, steuerzahlende Prostituierte allerdings, dass es nicht möglich erscheint, ein Gesetz zu erlassen, in dem klar und deutlich steht: Prostitution ist nur erlaubt für diejenigen, die einen festen und angemeldeten Wohnsitz in Deutschland haben. Damit könnten mindestens 50 Prozent der illegalen Prostitution auf einen Schlag verschwinden. Die Zwangs-, Armuts- und Wander-Prostitution insbesondere aus osteuropäischen Staaten würde eingedämmt und alle Huren müssten angemeldete Steuerzahlerinnen sein. Aber das bekommt irgendwie niemand hin, warum auch immer.

Nun zum Corona-Lockdown vom März 2020 und seinen Auswirkungen: Ich selbst arbeite schon lange nicht mehr aktiv, aber dennoch ist und bleibt die Reeperbahn meine zweite Heimat. Schon vor dem Lockdown war es für die Huren dort etwas unheimlich zu arbeiten, während ein neuartiges Virus grassiert. Die Hygienemaßnahmen wurden verschärft. Einige sind schon eineinhalb Wochen vor dem Lockdown gar nicht mehr zur Arbeit gegangen. Als dann auch offiziell die Schließung der Bordelle beschlossen wurde, war das eine selbstverständliche Angelegenheit, denn das war der richtige Weg für alle in der Bevölkerung, branchenübergreifend. Die angebotenen Hilfspakete erreichten allerdings nur wenige. Die als Soloselbstständige angemeldeten Huren erhielten einmalig 2500 Euro Corona-Soforthilfe, andere bekamen nichts. Kredite gibt es für uns sowieso nicht. Bei den Krankenkassen, in denen wir privat versichert sind, wurde und wird jedoch immer noch ein Risikozuschlag für unsere Berufsgruppe erhoben. Die meisten Huren wurden schließlich von den Sozialämtern auf die Grundsicherung verwiesen. Dort mussten sie sich dann outen, was durch das Prostitutionsschutzgesetz eigentlich zum Schutz der Huren untersagt ist - ein Ding der Unmöglichkeit! Die Huren, die das Land wegen der Grenzschließung nicht mehr verlassen konnten, bekamen nirgendwo Hilfe. Der Hamburger Senat hat – moralisch und ethisch richtig – einige von ihnen in Hostels untergebracht und über das Rote Kreuz drei Mal täglich mit Lebensmitteln versorgt. Aber die meisten von ihnen sind umgehend unkontrolliert in die Illegalität gegangen, arbeiten also trotz Corona-bedingten Verbots irgendwie weiter. Das gilt auch für die vielen drogenabhängigen Huren von St. Georg, unweit des Hauptbahnhofs. Was sollten die auch schon anderes tun – sie brauchen täglich ihr Heroin. Also gehen sie weiter anschaffen. Da hat bestimmt keine gerufen: „Gott sei Dank ist nun der Corona-Lockdown da, ab morgen bin ich clean!“. Für diese Prostituierten muss all das furchtbar sein, noch schlimmer als vorher. Ungeschützt werden sie nun in irgendwelchen Parks und privaten Wohnungen sexuell ausgebeutet, ohne Schutz und Hygienemaßnahmen gegen Corona. Zur Eindämmung der Pandemie ist all das auch nicht gerade förderlich. Und zur Möglichkeit der Kontakt-Nachverfolgung erübrigt sich wohl ein Statement. Auf der Reeperbahn stellt sich die Situation jedoch etwas anders dar. Die Prostituierten dort könnten, wenn sie dürften, auch in Corona-Zeiten in einer ordentlich und kontrolliert arbeiten. Deswegen wurde die Initiative „Sexy Aufstand Reeperbahn“ ins Leben gerufen. Leise und vernünftig hat sie mit zwei angemeldeten Demonstrationen darauf aufmerksam gemacht, was die Schließung der Bordelle letztlich bedeutet. Die Tore der Herbertstraße und Davidstraße wurden für die Öffentlichkeit geöffnet. Ein hervorragendes Hygienekonzept wurde erarbeitet und vielen Verantwortlichen vorgestellt: Politikern, Abgeordneten, Immunologen, Amtsärzten, Presse, Funk und Fernsehen. Es wurden knallharte Anforderungen daran gestellt und umgesetzt. Bis zum 25. August hatten wir viele Befürworter. Doch es kam – wie eigentlich erwartet, aber dennoch anders erhofft – ganz anders: Die Wiedereröffnung der Bordelle zum 1. September wurde vom Hamburger Senat mit der neuen Corona-Verordnung weiterhin abgelehnt, ohne Begründung und ohne nachvollziehbare Erklärung. Die Hamburger Corona-Fallzahlen sind jenseits des Anstiegs durch Urlaubsrückkehrer zum Glück relativ niedrig. Das Rotlicht-Milieu hat transparent, offen, ehrlich und Corona-gerecht alles vorgelegt und vorgeführt, was verlangt wurde. Das erarbeitete Hygiene-Konzept ist nach Aussagen von Infektionsschutzbeauftragten einmalig und absolut geeignet, um eine Übertragung von Covid-19 zu vermeiden und eine hundertprozentige Nachverfolgbarkeit bei einer möglichen Ansteckung zu gewährleisten. Aber all das reichte dem Hamburger Senat offenbar doch nicht, denn wir sind halt nur Huren, Zuhälter und Puffbesitzer. Wir hier auf der Reeperbahn sind das Herz von Hamburg mit seinem Hafen und den Kränen! Mit Lebensfreude, Feiern, Partys, Comedy, Musicals wie dem „König der Löwen“ oder der „Heißen Ecke“ im Schmidts Tivoli, mit Olivia Jones, dem Pulverfass Cabaret, Restaurants, Kneipen, Diskotheken, Bars und vielem mehr. Und wir sind eben doch nur die Nutten! Denn genau so fühlen wir uns jetzt: Wieder einmal mehr in den Allerwertesten getreten und ausgegrenzt von Politik und Gesellschaft. Wieder einmal mehr anders betrachtet und beurteilt als alle anderen Branchen in der Pandemie. Ich persönlich befürchte, dass jetzt das passieren wird, was alle unbedingt vermeiden wollten: Viele Huren werden aus Verzweiflung ihre „Hurenpässe“ abgeben und ihre Gewerbe abmelden. Nein, bestimmt nicht, um ihren Beruf aufzugeben. Sondern vielmehr, um illegal arbeiten zu gehen. Das findet sowieso schon überall statt und wer soll oder will das auch alles kontrollieren. Zudem ist da der Anreiz, das verdiente Geld komplett selbst zu behalten, weil dann keine Steuern mehr gezahlt werden. Außerdem wollen die Besitzer der Bordelle nach sechs Monaten auch mal wieder Miete sehen. Und wenn wir Huren die nicht zahlen können, dann stehen schon längst andere in den Startlöchern: Arabische Großclans und andere kriminelle Gruppierungen sowie Großinvestoren. Die freuen sich über Corona, legen für die nächsten sechs Monate die Mieten auf den Tisch und bekommen endlich das, worauf sie schon lange warten: Läden und Geschäfte, Hotels und Bordelle, an die sie sonst niemals herangekommen wären. Auch das ist eine Wahrheit, die niemand hören will. Zu den dafür Verantwortlichen fällt mir nur ein: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Vielleicht findet darüber hinaus sogar noch Anklang, was die Bundestagsabgeordneten Lauterbach und Grohe fordern: Prostitution wieder zu verbieten! Doch ändern würde das nichts. Prostitution wird weiterhin stattfinden, immer und überall, unter welchen Bedingungen auch immer. Es ist und bleibt das älteste Gewerbe der Welt. Nun habe ich nur noch eines zu sagen: Menschliche Nähe, Zärtlichkeit und Sex in welchen Variationen und für welche Bedürfnisse auch immer – das braucht der Mensch wie die Luft zu atmen, wie essen und trinken. Und genau aus diesem Grund ist der Beruf der Prostitution auch systemrelevant. Es gibt unendlich viele Menschen, die einsam und allein sind. Viele Senioren, die niemanden mehr haben. Menschen, die keinen Zugang zu sexuellen Begegnungen auf natürlichem Wege haben. Viele davon sind geistig eingeschränkt oder körperlich behindert, und werden wohl niemals eine Freundin oder Partnerin finden. Hinzu kommen psychisch kranke und labile Menschen, auch perverse und pädophile; zudem Menschen mit außergewöhnlichen sexuellen Vorlieben und Vorstellungen. Es gibt moralisch und ethisch viele Gründe für die Prostitution, aber fast immer nur einen dagegen, nämlich die eigene Haltung dazu. Ein Sprichwort sagt jedoch: Du musst erst in Winnetous Mokassins gegangen sein, um darüber zu reden, wie es sich anfühlt darin zu laufen.

Wir Prostituierten sind bestimmt nicht die besseren Menschen – aber wir sind auch nicht die schlechteren! Ich bin heute fast 60 Jahre alt und schwerkrank – ich werde bald sterben. Rückblickend auf mein Leben war das, was ich tat, wundervoll, hat unendlich vielen Menschen gutgetan und so manches Mal geholfen. Ich habe hier auf der Reeperbahn mein zweites zu Hause und seit mehr als 40 Jahren die besten Freunde der Welt. Menschen, die einen niemals hängen lassen – komme was immer auch will. Hier wird Menschlichkeit, Solidarität, Toleranz und Weltoffenheit ganz großgeschrieben. Da können andere bestimmen, was sie wollen – das wird sich niemals ändern!

LG und danke.

Anne-Marie, Eine Hure a.D.

* Update 08. September 2020: Der Hamburger Senat hat in Absprache mit den Nachbarbundesländern die Prostitution ab dem 15. September unter Auflagen wieder erlaubt, um das zunehmende (Wieder-)Abdriften der Prostituierten "unters Radar" zu verhindern.

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