Wie hinter einer einfachen Hilfeleistung – oder Hilfeunterlassung – eine Kette psychologischer Phänomene steckt. Von Evita Schäfer

Schwerpunkt


Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: An einem Feiertag möchten Sie noch schnell etwas Geld abheben. Die Filiale Ihrer Bank ist zwar geschlossen, aber glücklicherweise ist der Vorraum geöffnet und Sie machen sich auf den Weg zum Geldautomaten. Auf einmal wird Ihnen schwummrig, Sie stürzen und verlieren das Bewusstsein, da Sie ihren Kopf beim Sturz anschlagen. Nun würde man fast wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die nächste Person, die die Sparkasse betritt, den Notarzt verständigt – schließlich können in solchen Situationen manchmal Minuten über Leben und Tod entscheiden. Was sich kaum einer von uns vorstellen möchte: Dass vier Kunden die Bank betreten, Geld abheben und wieder verschwinden. Erst der fünfte Kunde verständigt den Notarzt. Was hier wie ein ethisch verwerfliches Sozialpsychologie-Experiment aus den 1960er Jahren klingt, wurde im Oktober 2016 Realität. Knapp ein Jahr später wurden die besagten Bankkunden wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Doch neben den rechtlichen Konsequenzen stellt man sich unmittelbar die Frage: Wie kam es wohl dazu? Wieso ist man in einer Welt, in der ein Notruf schneller und einfacher geht als jemals zuvor, nicht auch gewillt zu helfen?
Seit Jahren wird in der Psychologie zu der Frage geforscht: Warum helfen Menschen nicht, obwohl sie es könnten? Besonders interessant scheint diese Fragestellung in Bezug auf den sogenannten Bystander-Effekt zu sein. Dieser beschreibt, dass das Hilfeverhalten und Eingreifen in einer potenziell gefährlichen Situation weniger wahrscheinlich sind, je mehr Personen anwesend sind. Wie kann das sein? Rein logisch würde man meinen, je mehr Personen zum Helfen vorhanden sind, desto mehr Personen helfen auch. Tatsächlich passiert oft genau das Gegenteil.

Latané und Darley haben schon in den 1970er Jahren drei Faktoren erforscht, die dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen. Zum einen kommt es bei einer solchen Situation zu einer sogenannten pluralistischen Ignoranz: Sobald jemand sieht, dass andere Menschen die Situation zwar auch bemerken, aber nicht eingreifen, entsteht bei einem selbst Unsicherheit. Handelt es sich hierbei um einen Notfall? Oder irre ich mich in meiner Einschätzung? Des Weiteren kommt es durch die Anzahl der Personen zu einer Verantwortungsdiffusion: Bin ich die einzige Person, die theoretisch Hilfe rufen kann, dann bin auch ich als Einziger verantwortlich, wenn keine Hilfe gerufen wird. Sind zehn Personen anwesend, schrumpft die persönliche Verantwortung grob gesagt auf 10%. Der dritte Faktor, der hier ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, ist die Bewertungsangst: Verfüge ich überhaupt über die richtigen Qualifikationen, um zu helfen? Blamiere ich mich, wenn ich versuche die am Boden liegende Person in die stabile Seitenlage zu bringen und dabei Fehler mache?

Sich die Prozesse bewusst zu machen, kann dabei helfen, diesem Phänomen entgegenzustehen. Ist die Angst vor einer Blamage es wert, dass jemandem Hilfe verweigert wird und im schlimmsten Fall die Person ihr Leben verliert? Ist nicht trotzdem jeder Mensch zu 100% verantwortlich, in einer Situation, in der man zu 100% die Möglichkeit gehabt hätte, zu helfen? Jeder von uns kann seinen Tunnelblick, mit dem man dann doch die meiste Zeit durch das Leben geht, erweitern, den Autopiloten ausschalten und in so einer Situation richtig handeln. Oft genügt es schon, einfach nur das Handy aus der Tasche zu nehmen und die drei bekannten Ziffern einzugeben.

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