Über den Einfluss sozialstruktureller Merkmale auf die Wahlentscheidung bei Bundestagswahlen. Von Helene Übelhack

Forschung


„Die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts ist Bürgerpflicht.“ So steht es in Art. 26 Abs. 3 der Verfassung Baden-Württembergs. Dennoch gibt es in Deutschland keine Wahlpflicht, obwohl eine Einführung dieser seit vielen Jahren diskutiert wird, da die Wahlteilnahme in Deutschland immer weiter zurückzugehen scheint.

Woran liegt das? Wer sind diejenigen, die nicht zur Wahl gehen und „unterm Radar“ der Demokratie bleiben?

Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen lag bis 1983 zumeist bei über 85 Prozent, seit 1987 ging sie jedoch deutlich zurück und erreichte 2009 die bislang niedrigste Wahlbeteiligung von 70,8 Prozent.

Zahlreiche Länder, in denen es eine Wahlpflicht gibt, haben trotz Wahlpflicht ebenfalls mit sinkenden Wahlteilnahmen zu kämpfen. Dies mag unter anderem daran liegen, dass häufig keine Konsequenzen drohen, wenn man dort der Wahl fernbleibt. Es zeigt sich, dass die bloße Pflicht – ob nun gesetzlich festgeschrieben oder lediglich als moralische Bürgerpflicht – nicht ausreicht, alle Menschen zu motivieren, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und durch den Wahlakt am politischen Geschehen teilzunehmen.

Um die Hintergründe der Nichtteilnahme an Wahlen zu untersuchen, lohnt sich ein differenzierter Blick auf die Wahlteilnahme in verschiedenen Regionen Deutschlands. Bei der Bundestagswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung insgesamt bei 76,2 Prozent. Die Quoten der einzelnen Wahlkreise unterscheiden sich jedoch stark. Während beispielsweise der Wahlkreis München Land mit einem Wert von 83,9 Prozent die höchste Wahlbeteiligung im Bundesgebiet aufwies, lag die Beteiligung im Wahlkreis Duisburg II nur bei 64,7 Prozent. Diese stark divergierende Wahlteilnahme spricht für eine unterschiedlich starke Einflussnahme verschiedener Regionen auf den Wahlausgang.

Dieses Missverhältnis politischer Einflussnahme ist besonders dann als kritisch zu betrachten, wenn ihm sozialstrukturelle Merkmale zugrunde liegen, welche die partizipatorische Exklusion bestimmter Milieus zur Folge haben. Der Gleichheitsgrundsatz der Demokratie spiegelt sich in verschiedenen Facetten unseres Grundgesetzes wider. Fraglich ist jedoch, ob die Gleichheit bei Wahlen (Art. 38 Abs. 1 GG) gewährt ist, wenn verschiedene Bevölkerungsgruppen aufgrund sozialstruktureller Gegebenheiten nicht am politischen Geschehen teilhaben.

Es gibt vielfältige Merkmale, wie Alter, Geschlecht, formaler Bildungsgrad und Migrationshintergrund, welche die Wahlentscheidung beeinflussen. Dabei ist zwischen zwei Schritten der Wahlentscheidung zu unterscheiden, auf welche sich die verschiedenen Merkmale je in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Ausmaß auswirken. Die Wahlteilnahme stellt lediglich den ersten Schritt der Wahlentscheidung, nämlich die Entscheidung, ob überhaupt gewählt wird, dar. Erst im Anschluss ist die Entscheidung für eine Partei und eine Kandidatin oder einen Kandidaten relevant.

Um die Effekte ungleicher politischer Beteiligung auf politische Ergebnisse erörtern zu können, müssen beide Schritte der Wahlentscheidung in den Blick genommen und ihre Abhängigkeit von sozialstrukturellen Merkmalen untersucht werden: Wer nimmt an politischen Wahlen teil? Wen wählen diejenigen, die ihrer Bürgerpflicht des Wählens gerecht werden? Und was ist mit denjenigen, deren politischer Wille „unterm Radar“ bleibt?

Die Participation Pyramid nach Milbrath ordnet verschiedene politische Partizipationsmöglichkeiten entsprechend ihres Anspruchs. Die niedrigschwelligste Form aktiver politischer Teilhabe stellt in diesem Modell die Teilnahme an Wahlen dar. Sowohl bei Wahlen, als auch bei den deutlich anspruchsvolleren Partizipationsmöglichkeiten, wie Parteiarbeit oder der Ausübung eines politischen Mandats, zeigt sich ein deutlicher Alterseffekt. Junge Menschen engagieren sich politisch weniger als Ältere. In Parlamenten und Parteien sind sie deutlich unterrepräsentiert und auch bei der Wahlteilnahme nach Altersgruppen fällt auf, dass die Wahlbeteiligung der 18 bis 29-Jährigen bei der Bundestagswahl 2017 bei unter 70 Prozent lag, wohingegen die Wahlteilnahme mit zunehmendem Alter stieg und die Gruppe der 60 bis 69-Jährigen sogar eine Wahlbeteiligung von 81 Prozent aufwies.

Zieht man als zusätzlichen Faktor für politische Partizipation den formalen Bildungsgrad hinzu, zeigen sich auf allen Stufen politischer Partizipation auch sehr starke Bildungseffekte. Diese haben seit den 1980er Jahren deutlich zugenommen und treten insbesondere bei den jüngeren Generationen zu Tage. Ob sich junge Menschen politisch beteiligen, hängt also zunehmend von deren Bildungsgrad ab.

Die beiden Merkmale Alter und formaler Bildungsgrad zeigen bereits, dass es eine partizipatorische Kluft zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen gibt.

Die Demokratie lebt von der Mitgestaltung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Um ihrem Gleichheitsversprechen gerecht zu werden, bedarf es jedoch der Teilhabe aller – ganz gleich wie alt, gebildet oder wohlhabend. Wenn soziale Exklusion die Gleichheit im Wahlrecht aushebelt, droht die Gefahr, dass die Anliegen der Nichtaktiven bei politischen Entscheidungen weniger stark ins Gewicht fallen als die der Aktiven, was zu politischer Ungleichheit führt.

Für unsere Demokratie steht einiges auf dem Spiel. Zwar ist der Bundestag dem Gemeinwohl verpflichtet, allerdings vertreten die Abgeordneten nun mal die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler. Die zunehmende sozialstrukturell bedingte Exklusion bestimmter Milieus kann zum Teufelskreis der repräsentativen Demokratie werden. Wenn nur noch bestimmte Bevölkerungsgruppen vertreten werden, da andere Milieus „unterm Radar“ bleiben, sinkt mit der Repräsentation dieser auch die Akzeptanz und die übrige Partizipationsbereitschaft.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diesem beunruhigenden Trend entgegenzuwirken, um einer inhaltlichen Politikverzerrung vorzubeugen. Dies kann zum Beispiel durch gleiche und gerechte Demokratieerziehung von Kindern und Jugendlichen – unabhängig ihrer sozialen Herkunft – erreicht werden. Auch die Parteien sind hier in der Pflicht, ihre Reformen, zu denen sie die gesellschaftlichen Entwicklungen mittelfristig zwangsläufig bewegen werden, nicht ausschließlich auf junge Generationen auszurichten. Es müssen vielmehr Lösungsansätze entwickelt werden, auch sozial schwache und bildungsferne Milieus wieder vermehrt in die politische Entscheidungsfindung zu integrieren. Die Migrationsentwicklungen der letzten Jahre werden dabei zu einer zusätzlichen Herausforderung für eine Demokratie mit gerechten Teilhabemöglichkeiten.

Es kann nicht Ziel sein, alle Bürgerinnen und Bürger zur Wahlteilnahme zu zwingen, das widerspräche schon dem Gedanken der freien Wahl. Allerdings bedarf es gerechter Chancen für den Zugang zu politischer Teilhabe für sämtliche Bevölkerungsgruppen. Nur so kann das normative Gleichheitsversprechen der Demokratie eingehalten werden.

  • Fachbereich: Politikwissenschaft
  • Universität: RWTH Aachen

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