Musik in der UdSSR. Von Anastasia Timofeeva

Forschung


Es wäre naiv zu glauben, dass die Musik als Kunstform apolitisch oder bar jedes sozialen Aktivismus sei, und zu behaupten, dass Komponisten und Interpreten in einem Elfenbeinturm leben.
Die Bedeutung und die Möglichkeiten der Musik erkannten und schätzten bereits die alten Griechen, die ihren Nachkommen unzählige Schriften zu diesem Thema hinterließen. Dies verstanden seit jeher auch die Institutionen des Propaganda-Apparates, welche ihre Drachmen, Taler und Rubel in gewinnsichere Musik-, Literatur- und Architektur-Aktien investierten. Um in heutiger Sprache zu sprechen: In die Kunst zu investieren, ist ein lukratives Unterfangen.

Interessanterweise eroberten die Gesetze des Kapitalmarktes die Künste schon lange bevor der Kapitalismus zum vorherrschenden Wirtschaftssystem wurde. Bach, Mozart und Beethoven waren ausgezeichnete Selbstvermarkter ihrer großen Werke.

Doch es gibt ein politisches Regime, in welchem die Geschäftigkeit auf dem kapitalistischen Kunstmarkt verstummt, und wo stattdessen der düstere Gefängnisalltag des ideologischen Diktats entsteht. Dies ist der Totalitarismus, ein wahrhaftiger Meister im Instrumentalisieren der Künste zum Zwecke ideologischer Ziele: Er verwandelt diese in eine wirksame, wenngleich blutleere Waffe des Propaganda-Apparates. In diesen historischen Perioden tauchten für Schöpfer von Kunstwerken sowie für ausführende Musiker verlockende Perspektiven einer stabilen Existenz und finanziellen Wohlstandes auf. Das berühmte Prinzip „Wer bezahlt, der gibt Musik in Auftrag“ spielt auf menschliche Schwächen an, und nur wenige wagen es, sich den allgemeinen Tendenzen zu widersetzen.

Im Zentrum dieses Artikels stehen die „Gesänge eines Wanderers“ des großen russischen Komponisten Georgy Sviridov, welche 1942 geschrieben und bis heute nicht veröffentlicht wurden. In der Geschichte seiner Werke sowie in seinem weiteren Schicksal spiegeln sich Prozesse, welche aus der stalinistischen Epoche in der Sowjetunion hervorgehen.

Georgy Sviridov war ein durch und durch russischer Komponist im Geiste, in seiner Thematik und in seiner Musiksprache. Quellen seiner Inspiration waren die Poesie von A. Puschkin, M. Lermontov, A. Block, S. Jessenin und W. Majakowski, sowie traditionelle liturgische Texte. Manchmal wandte er sich auch russischen Übersetzungen von fremdsprachigen Texten zu, aber es waren eher kurze Ausflüge in fremde Länder und Kulturen. Darauf folgte immer eine Rückkehr in die Gefilde heimischer Literatur.

Dem Schaffen Sviridovs sind viele wissenschaftliche Arbeiten gewidmet und seine Werke sind sehr detailliert untersucht worden. Deshalb war die Entdeckung eines bisher unveröffentlichten Werkes des Komponisten in vielerlei Hinsicht unerwartet.

Das Werk ist auf Texte der chinesischen Tang-Poesie (7. bis 9. Jahrhundert nach Christus) komponiert, und befindet sich stilistisch außerhalb des für uns bekannten Themenkreises Sviridovs. Sehr unerwartet ist auch die Wahl eines „unpatriotischen“ Themas im ersten Jahr des Zweiten Weltkrieges.

Die 1930er–40er Jahre in der Sowjetunion (UdSSR) waren die Blütezeit des stalinistischen Totalitarismus. In den Kerkern der stalinistischen Lager starben mehr als 20 Millionen Menschen – deutlich mehr als in den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs. Die Staatskontrolle im Land verbreitete sich auf allen Ebenen der Gesellschaft, und das wachsame Auge des Komitees für Staatssicherheit (KGB) und des ideologischen Apparates der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beobachtete Tag und Nacht die Erziehung der sowjetischen Menschen im Geiste der kommunistischen Ideologie. Ganz oben auf dieser Pyramide der Beobachtung befand sich der Führer selbst – W. I. Stalin.
Die größte Auszeichnung auf allen Gebieten von Kunst und Wissenschaft in diesen Jahren war der Stalin-Preis, und jeder bedeutende Künstler hoffte darauf, bemerkt und ausgezeichnet zu werden. Für die Kontrolle über sämtliche nationale Intellektuellenkreise war ein eigenartiges System von Künstlerverbänden entwickelt worden. Dies waren Verbände für Architekten, Filmemacher, Maler, Journalisten und für Komponisten. In allen diesen Verbänden gab es eine Kritiker-Abteilung, die verantwortlich dafür war, dass alle neuen Werke ideologisch der Parteilinie treu blieben.

Erstaunlicherweise waren die eigenen Kollegen die strengsten Richter im Komponisten-Verhör, denn bei der kleinsten Schwankung weg von der Parteilinie konnten Sanktionen nicht nur für einen „Täter“ vorkommen, sondern für den ganzen Verband. Und somit war eine Angst vor Kollektivschuld geboren. War man der ideologischen Abweichung und des Bruches mit dem ideologischen Themenkreis angeklagt, so sollte man sich selbst auspeitschen, was protokolliert und an die Überwachungsbehörden weitergeleitet wurde.

So bildete sich in der Sowjetunion eine für diese Zeit spezifische, geschlossene Künstlerwelt. Während hinter dem Eisernen Vorhang Pablo Picasso und Salvador Dalí ihre Werke erschufen, war es für sowjetische Maler eine Pflicht, realistische Porträts von Revolutionsführern, Arbeitern, Kolchosenbauern (Kolchos: landwirtschaftlicher Großbetrieb) und Kinder-Pionieren zu malen. Während Antoni Gaudí, Oscar Niemeyer und Friedensreich Hundertwasser schon ihre eigenen Architekturexperimente vorbereiteten, wurden in der Sowjetunion nach Stalins Geschmack Hochhäuser im Zuckerbäckerstil errichtet. Solche architektonischen „Meisterwerke“ schmückten auch die Hauptstädte von sozialistischen Bruderstaaten. Bis zum heutigen Tag kann man in der Berliner Karl-Marx-Allee (1949–1961 noch „Stalinallee“ genannt) ein solches Wunderwerk bestaunen, welches übrigens unter Denkmalschutz steht.

Aber während eine Abweichung von der Hauptlinie der Partei in der Arbeit von Malern und Literaten oberflächlich sichtbar und mit bloßem Auge zu erkennen war, war die Sache in der klassischen Musik deutlich komplizierter. Wie kann man beispielsweise in einer Sinfonie oder in einem Quartett festlegen, wo dieses Werk die Grenze des Erlaubten überschreitet, beziehungsweise wo diese Grenze überhaupt liegt?

Der vorrangige Musikkritiker im Land war Stalin selbst. Er war zwar Musikliebhaber auf dem Niveau kaukasischer Volkslieder und Tänze, dennoch auch Stammgast im Bolschoi-Theater in Moskau. Vom Kreml zum Bolschoi-Theater führte sogar eine unterirdische Straße, speziell für Stalins Automobil angelegt, und im Theater wurden für ihn ein Arbeitskabinett und ein Schlafzimmer angelegt. Übrigens ist der Zugang zu diesen Räumen bis heute für alle, selbst für die Theaterangestellten, untersagt.

Meinung und Geschmack Stalins waren der Maßstab für die Bewertung von Musikwerken. Genauso wie in anderen Künstlerverbänden war es die Hauptaufgabe des Komponistenverbandes, darauf zu achten, dass alles dem Geschmack des Führers entsprach. Junge Komponisten, Absolventen von Konservatorien, die in einen Komponistenverband eintreten wollten, mussten ein Auswahlverfahren der Zulassungskommission durchlaufen. Danach konnte man als Mitglied mit der Milde und Unterstützung des Verbandes rechnen.

Jeder Komponist bekam einen sogenannten staatlichen Auftrag; um den zu realisieren, konnte er für ein paar Monate zu einer elitären Siedlung mit Einzelhäusern und kostenloser Verpflegung fahren. Die Dauer des dortigen Aufenthaltes war angepasst an die Größe des bevorstehenden Werkes: für eine Sinfonie länger, für ein Quartett kürzer. Dann wurde das „frischgebackene“ Kunstwerk an eine Kaufkommission des Komponistenverbandes verkauft, wofür der Komponist ein bestimmtes Entgelt bekam. Aber man konnte nicht nur mit Lob rechnen, sondern auch mit harter Kritik seitens der Kommissionsmitglieder. Ein neues Werk, welches positive Kritik bekommen hatte, konnte für den Komponisten im eigenen Verlag des Komponistenverbandes kostenlos veröffentlicht werden und sollte von den besten Künstlern des Landes in den größten und bedeutendsten Konzertsälen aufgeführt werden. Ein solches System existierte in keinem anderen Land der Welt, und auch heute gibt es so etwas in Russland nicht mehr.

Der junge Sviridov war schon ausreichend bekannt als Komponist und Mitglied des Leningrader Komponistenverbandes, aber er sollte sofort nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Militärdienst leisten. Bald wurde er aber wegen einer Augenschwäche ausgemustert, fuhr nach Nowosibirsk und schloss sich dort einer großen Gruppe von Künstlern, Komponisten, Schauspielern und Theatertruppen an, welche in diese weit entfernte sibirische Stadt evakuiert worden waren.
Dort wandte er sich ganz unerwartet der chinesischen Poesie des 7. bis 9. Jahrhunderts mit ihrer philosophischen Distanziertheit und ihrem zeitlosen allgemeinen Charakter zu. In den „Heften von verschiedenen Notizen“ der Jahre 1972–1980 erinnert sich Sviridov: „Während des Krieges, als ich nach Nowosibirsk fuhr, wurde in mir ein ungewöhnliches Gefühl geboren – das Gefühl der Nähe des Ostens und gleichzeitig eine Verlorenheit, das Gefühl von Provinzleben (nach der Zeit in Leningrad). Hiervon kommt die Stimmung der ‚Gesänge des Wanderers‘ (auf der einen Seite der Orient, auf der anderen Seite das Provinznest)“.

Es bleibt ein Rätsel, wie der Komponist an das Buch gekommen war, das er als Literaturquelle verwendete: die Anthologie der chinesischen Lyrik des 7. bis 9. Jahrhunderts nach Christus mit Übersetzungen des bedeutendsten russischen Orientalisten Julian Shchutsky. Dieser große Wissenschaftler und Spezialist sprach 16 Fremdsprachen und war, wie viele andere der größten und besten Vertreter der russischen intellektuellen Elite, im Jahr 1938 unter der Anschuldigung der Spionage erschossen worden. Alle seine Schriften und literaturwissenschaftlichen Werke waren sofort verboten worden und waren für viele Jahre vom öffentlichen Zugang ausgeschlossen. Vermutlich riecht der geneigte Leser die Lunte: Ein vergleichbares Prozedere fand auch in Deutschland statt, wo etliche Meisterwerke der Weltliteratur öffentlich und systematisch verbrannt wurden. Ähnliche Handschrift!

Sviridov wählte sieben von 160 Gedichten aus dieser Anthologie und kreiert eine eigene Komposition, eine eigene Erzählung über das Leben eines Menschen, der seine Heimat verlassen hat und nach vielen Jahren der Wanderung als einsamer und unerkannter alter Mann zurückkehrt. Bald nach der Fertigstellung dieses Werkes zeigt Sviridov es der Leitung des Komponistenverbandes und bekommt eine harte Kritik. Es folgt ein Zitat aus dem Auftritt seines Kollegen und Freundes, dem Komponisten I. Dzierzynski, bei der öffentlichen Besprechung von Werken des Leningrader Komponisten am 30. November 1953 (ein Stenogramm ist im zentralen staatlichen Kunst- und Literatur-Archiv Sankt-Petersburg zu finden): „Sviridov begann schon früh, in seinen Werken auf alt-chinesischen Themen irgendwohin abzurutschen, und dies ist unverständlich. Ich habe ihn mehrmals gefragt, warum das Alte eine solche Anziehungskraft auf ihn hat. […] Sviridov hat schon Gedichte von Puschkin zu Romanzen gemacht. Ich habe diese gehört, ging zum Verband und sagte, dass er eine riesige Begabung sei. Aber danach […] ist er in ein sehr enges künstlerisches Krematorium eingetreten. Er komponierte neo-Bachische Werke. Es geht nicht darum, dass diese Hoffnungslosigkeit, Düsterkeit, Unklarheit von Intentionen, und diese Askese auf die Nerven gehen. […] Er hat eine sehr große und gesunde Begabung, aber seine künstlich gefundenen philosophischen Prinzipien sind verdorben. […] Ich finde, unser Komponistenverband sollte Sviridov mit einer gestärkten, harten Kritik unterstützen, und die Genossen, die dieses Werk bejubeln, sind nicht nur für Sviridov selbst undienlich, sondern schädigen auch die weitere Entwicklung unseres Komponistenverbandes und seine wunderbaren Vertreter, zu welchen G. Sviridov selbst zählt.“

Die harte Kritik, die mehrere Werke Sviridovs über mehrere Jahre betraf, hatte für ihn sehr negative Auswirkungen – sechs Jahre lang, von 1948 bis 1953, wurden seine Werke ignoriert, nicht veröffentlicht und nicht aufgeführt, und der Autor selbst sollte sein Geld mit kleinen Aufträgen verdienen. Sviridov bekannte sich öffentlich schuldig, aber er wurde nie öffentlich begnadigt – wahrscheinlich, weil er kein Werk im Sinne der sowjetischen Propaganda komponiert hat.
Vielen haftet ein Beschluss des Politbüros der kommunistischen Partei der UdSSR vom 10. Februar 1948 im Gedächtnis, der in der „Prawda“ veröffentlicht worden war, der wichtigsten Zeitung des Landes, wo eine „formalistische“ Richtung in der Musik als „volksfeindlich und zur Entartung der Musik führend“ bezeichnet und verdammt worden war. Dieser Beschluss hat sehr stark die Tätigkeit vieler großer sowjetischer Komponisten wie D. Schostakowitsch, S. Prokofjew, N. Mjaskowski und anderer beschränkt. Und obwohl Sviridovs Name nicht direkt in dieser Liste genannt wurde, wurde er als Schüler von Schostakowitsch auch zu den Formalisten gezählt. Das Resultat war, dass er bis zu Chruschtschows Tauwetter-Periode für seine Schreibtisch-Schublade komponierte.

Neue Zeiten bringen neue Strömungen, neue Ideen, neue Themenkreise. Wahrscheinlich hinderte die schmerzliche Erinnerung an all die Ungerechtigkeiten und Beleidigungen den Komponisten daran, zu seinem verurteilten und verdammten Werk zurückzukehren, und erst 73 Jahre nach seiner Schöpfung, im 21. Jahrhundert, erklomm dieses wunderbare Werk die Konzertbühne, um für immer zu bleiben.

Mit der Schöpfung von den „Gesängen des Wanderers“ (1942) modellierte Sviridov eine Situation, die uns aus vielen abenteuerlichen Filmen und Büchern bekannt ist, in denen der Protagonist plötzlich in die Zukunft oder in die Vergangenheit reist. Meistens locken uns diese Werke als komische, paradoxe, unerwartete Situationen. Der Held in Sviridovs Werk segelt zu uns auf einem leichten Kahn aus dem 7. Jahrhundert, und ist nur mit ewigen moralischen und ethischen Werten bewaffnet, weshalb er im stalinistischen Russland nicht zur richtigen Zeit kommt. Sviridovs Zeitmaschine hat den chinesischen Wanderer auf die Minenfelder des Zweiten Weltkrieges mit ihrem Kanonendonner und ihren Bombenexplosionen gebracht.

Sviridov war ein religiöser Mensch, der stolz auf seine Heimat und ihre jahrhundertealte Geschichte war, der an den Krankheiten seines Landes litt und sich über alle Freuden dieses Landes freute. Er konnte nicht mit der Abwendung von heiligen Traditionen hin zu Propaganda einverstanden sein. Als überzeugter Pazifist hat Sviridov in düsteren Kriegszeiten ein inneres Gleichgewicht in einer älteren Epoche, in einem anderen Land, in einer weit entfernten Kultur gefunden, und dafür hat er über viele Jahre mit menschlicher und schöpferischer Vereinsamung bezahlt, aber er behielt sich dabei stets seine Ehrlichkeit und seine Unverkäuflichkeit.

freiraum #67