Ein paar Gedanken und Anekdoten aus meinem Auslandssemester in Porto. Von Neele Kinkel.
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Neulich hatte ich ein interessantes und sehr offenes Gespräch mit meiner Mitbewohnerin Hanae, einer wundervollen jungen marokkanischen Frau: „Kennst du dieses Gefühl”, fragte sie mich, „wenn du nur so mittelgut auf eine sehr schwierige Klausur vorbereitet bist und dieses ängstliche Gefühl im Bauch aufkommt, diese Unsicherheit? Du könntest Glück haben und eine der wenigen sein, die sie bestehen, aber es könnte dich auch ganz hart treffen und du rasselst gnadenlos durch.” Obwohl ich es ungern zugebe, kenne ich dieses Gefühl, und falls ihr es nicht kennt, schätzt euch glücklich und seid weiterhin so fleißig, dass ihr niemals in diese Situation kommt, denn glaubt mir, es kann sich ganz schön gruselig anfühlen. „Genau dieses Gefühl”, fuhr sie fort, „löst die Corona-Pandemie bei mir aus. Sie spaltet unsere Gesellschaft. Wir könnten zu denjenigen gehören, die glimpflich aus der Sache herauskommen, vielleicht selbst davon profitieren, aber es könnte auch ganz schnell ganz steil bergab gehen.“ Ich kann mir gut vorstellen, wie komisch es für Hanae sein muss, plötzlich alleine in einem fremden Land dazustehen – und dann wegen der Pandemie nicht mal mehr so einfach die Möglichkeit zu haben, Menschen nach Lust und Laune zu sehen. Hanae ist in einer Kultur aufgewachsen, in der es normal ist, jeden Morgen über den vollen Markt in Marrakkesch zu schlendern und jeden Abend mit einer 13-köpfigen Familie zu Abend zu essen. Ich vermisse selbst meinen im Winter kalten, dunklen und nassen Weg auf dem Fahrrad zur Uni. Hätte mir das jemand letztes Jahr gesagt, hätte ich es nicht geglaubt. Hanae ist mir sehr ans Herz gewachsen und inzwischen treffen wir uns jeden Morgen um 9 Uhr bei mir im Zimmer und studieren zusammen. Was ich daraus gelernt habe, ist, wie wichtig und wertvoll menschliche Nähe und Interaktion für mich sind, gerade in dieser Zeit der sozialen Isolation. Ich bin jedenfalls dankbarer denn je für die Menschen um mich herum. Viele sind es nicht, aber sie spielen eine wichtige und tragende Rolle in meinem Leben. Und ich denke, dass es eine schöne Geste ist, es euren Mitmenschen mitzuteilen, wenn ihr das Gleiche fühlt. Ich denke, dass wir niemals so auf die Unterstützung und Liebe untereinander angewiesen waren wie heute.
Um zurück auf den Boden der Tatsachen zu kommen: Viel zwischenmenschliche Interaktion kann momentan nicht stattfinden. Ein Zufluchtsort für viele Menschen ist das Internet. Als Kind der Generation Z bin ich praktisch mit dem Internet groß geworden und habe schon früh Nutzen daraus gezogen. Mit 13 Jahren hatte ich meinen ersten „Job” als Mode-Bloggerin, den ich damals über mein Schülerpraktikum bei Otto in Hamburg bekommen hatte. Heutzutage programmiere ich viel, unter anderem innerhalb meines Masters „Cognitive Systems”, wobei indische YouTube-Kanäle mit ihren simplen Erklärungen, die kein Professor mir jemals so anschaulich präsentieren würde, mir das eine oder andere mal das letzte fehlende Puzzlestück für meinen Code geliefert haben. Außerdem ermöglicht das Internet mir, selbst in meinem Auslandssemester Kurse an meiner Universität in Deutschland zu verfolgen. Kurzum, ich bin ein großer Fan von den Freiheiten, die Vorlesungen über Zoom mit sich bringen. Mein aktueller Lieblingsfund aus der Schatzkiste des Internets ist “Language Learning with Netflix”, eine kostenlose Extension für Google Chrome, die – wie der Name vermuten lässt – interaktives Lernen von Sprachen mit originalen Netflix-Filmen und -Serien zulässt. Super für mein Portugiesisch! Des Weiteren bietet das Internet eine freie Plattform für Künstler, während Museen und Clubs geschlossen sind. Statt auf Flohmärkten zu stehen, verkaufen Kreative Schmuck, Kleidung und andere feine Dinge auf Etsy und Kleiderkreisel und können dadurch viel mehr Menschen ihrer Zielgruppe erreichen. Statt auf Konzerte zu gehen, gibt es online neue Radiostationen, die es auch unbekannteren Künstler*innen erlauben, entdeckt zu werden. In einer Zeit, in der leider viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, schafft das Internet viele neue Chancen und Freiheiten für Arbeit und Bildung. Obwohl ich der Meinung bin, dass das Internet zwischenmenschliche Interaktion und Nähe niemals auch nur ansatzweise ersetzen könnte, denke ich, dass es uns viele Möglichkeiten gibt, unsere persönlichen Interessen und Ziele auf eine individuelle Art und Weise zu verfolgen. Gleichzeitig bietet es einen Raum, in dem wir uns so frei bewegen können, wie wir möchten. Keine Maskenpflicht, kein Mindestabstand *zwinker*.
Die Welt verändert sich. Nichts wird so sein, wie es war. Statt den Lauf der Dinge zu kontrollieren, sollten wir uns die Frage stellen, wie wir uns mit ihr verändern können, uns auf den positiven Wandel fokussieren können, der sich gleichzeitig mit all dem Elend vollzieht. Das Glas ist immer halbvoll. Auch wenn das manchmal bei all der negativen Berichterstattung schwierig zu sehen ist.
Ich bin sehr dankbar, hier sein zu dürfen, mit so offenen Armen aufgenommen zu werden in einem fremden Land. J. K. Rowling hat auch einige Jahre in Porto gewohnt und hier angefangen, das erste Harry-Potter-Buch zu schreiben – es gibt sogar ein Schloss, das ihre Inspiration für Hogwarts war! Vielleicht sind es diese Stadt oder ihre Menschen, die mir und anderen Hoffnung und Kreativität schenken, vielleicht auch nicht, aber ich hoffe, dass ich euch ein bisschen von diesem Gefühl mitgeben kann.
Neele Kinkel macht ihren Master in Cognitive Systems an der Universität Potsdam und absolviert gerade ein Auslandssemester an der Universität Porto. Seit April 2020 ist sie in der Grundförderung der FNF.
freiraum #68