Empirische Filmästhetik und physiologische Affekte – Eine Untersuchung anhand von Messungen der Pulsfrequenz sowie durch Eye-Tracking-Verfahren. Von Bella Gurevich

Forschung


Die Filmsuche startet

In der aktuellen Streaming-Landschaft folgen ZuschauerInnen immer mehr intelligenten Filmvorschlägen, die auf ihren bisherigen Sehstatistiken beruhen. Dies beschleunigt zwar – einem Filter ähnlich – die Suche nach der gewünschten Unterhaltung, verspricht jedoch nicht unbedingt zuverlässig das Gefühlserlebnis, wonach sich ZuschauerInnen zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich sehnen.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Filme laut dem führenden Video-on-Demand-Anbieter Netflix noch immer manuell verschlagwortet werden, um erst anschließend in einer sogenannten Similarity-Map, d. h. anhand von komplexen Verbindungsgeflechten auf Basis von Ähnlich- und Gemeinsamkeiten, automatisiert kategorisiert zu werden. Dabei werden die Filme nach Genres, den behandelten Thematiken, sowie den Vorbildern und der entsprechenden Ära sortiert. Anschließend werden die Filme mit dahingehend ähnlichen Filmen algorithmisch in Verbindung gebracht. Vor dem Hintergrund, dass ZuschauerInnen Filme eher nach dem Kriterium der emotionalen Erfahrung aussuchen als nach den Inhalten, scheint die praktizierte Kategorisierung lediglich eine orientierende Lösung zu sein.

Das Kernkriterium „Genre“ stellt für ZuschauerInnen zwar eine Orientierung in Hinsicht auf die emotionale Ausrichtung von Filmen dar. Dabei können Filme verschiedener Genres jedoch ähnliche Gefühlsmodifikationen aufweisen – und umgekehrt. Zum Beispiel kann ein Science-Fiction-Film auf melodramatische Inszenierungsweisen zurückgreifen – und selbst eine Komödie bei ZuschauerInnen in einzelnen Szenen eher das Gefühl von Beklemmung als heitere Affekte auslösen. Vor diesem Hintergrund schlagen Christine Gledhill, Expertin filmischer Genretheorie, und Filmwissenschaftler Hermann Kappelhoff eine Theorie sogenannter generischer Modi, die auch von Szene zu Szene wechseln können, vor.
Wer sagt mir, was ich fühle?

Eine Möglichkeit die emotionale Erfahrung solcher generischer Modi im Film zu deuten bietet zunächst das manuelle Einschätzen eigener Gefühle während der Filmsichtung. Die größte Problematik hierbei ist, dass eine Immersion mit dem Film – also das Eintauchen in das Filmgeschehen – und die gleichzeitige Reflektion und Dokumentation der vernommenen Gefühle kaum gleichzeitig umsetzbar sind.

Eine Schilderung des Gefühlsverlaufs im Nachhinein hingegen lässt durch die Zeitverzögerung gegenüber der eigentlichen Erfahrung keine akkuraten Ergebnisse vermuten. Zum einen können Gefühlseindrücke schnell verblassen, zum anderen können sie im Nachgang abweichend interpretiert werden. Dagegen geeignet erscheint die Untersuchung der physiologischen Zustände von ZuschauerInnen im Verlauf eines Films. Dabei bildet das Arousal einen geeigneten experimentellen Marker für eine Untersuchung des Affekts filmästhetischer Figurationen. Ein Indiz für die Intensität des Arousals, also den Grad der Erregung der ZuschauerInnen, liefert dabei die Pulsfrequenz.

Laut Prof. Dr. Markus Hecker, Leiter der Abteilung Herz- und Kreislaufphysiologie am Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg, eignet sich dieser Parameter im Gegensatz zu Indikatoren wie Hautleitfähigkeit, Sauerstoffsättigungsgehalt und Körpertemperatur besonders gut für diese Art von Untersuchungen. Zum einen kann eine Pulsfrequenzmessung am Finger über die Gesamtdauer eines Filmes hinweg erfolgen, ohne dass die ProbandInnen in ihrem immersiven Vertieftsein in den Film signifikant einschränkt werden.

Ein weiteres Argument stellt die hohe Varianz der Ergebniswerte und die damit einhergehende Aussagekraft dar. Während die Sauerstoffsättigung auch bei einer relativ starken körperlichen Belastung bei einer Filmsichtung selten um mehr als ein Prozent sinkt, variiert der Puls meist zwischen den Werten 60 und 100 Schlägen pro Minute. Daraus lassen sich entsprechend eher Indizien für ein ansteigendes oder sinkendes Arousal ableiten. Schließlich ist die Pulsfrequenz weniger von der Raumtemperatur abhängig als die Hautleitfähigkeit und die Körpertemperatur. Sie lässt sich außerdem beispielsweise im Gegensatz zum Blutdruck durchgehend messen und nicht nur in Abständen.

Filmtheoretische Empirie: Stück für Stück zum Bio-Glück

Die Arbeit stützt sich auf die Annahme, dass die Testfilme jeweils Szenen hoher emotionaler Intensität aufweisen. So besteht die zentrale These der Arbeit darin, dass analog dazu auch die Bio-Daten im Verlauf der Filme Auffälligkeiten – d.h. signifikante Ausschläge – zeigen. Die explorative Untersuchung der Pulsfrequenz von ProbandInnen während der Filmsichtung soll die derart ausgewiesenen Points of Interest, also Filmszenen die im Hinblick auf starke Emotionalisierung interessant erscheinen, zunächst lokalisieren.

Auf die explorative, physiologische Untersuchung folgt schließlich eine dezidierte Analyse der entsprechenden Szenen im Film anhand von Eye-Tracking-Verfahren. Hierbei wird nicht nur die Fokussierung des Auges verfolgt, sondern auch die Pupillenweitung und -verengung sowie die Blinzelrate gemessen. Diese Parameter lassen vertiefende Rückschlüsse auf die Filminszenierung zu. Beispielsweise können Bewegungsdynamiken, Änderungen in der Beleuchtung und Schreckmomente in den Augen der ProbandInnen quasi buchstäblich abgelesen werden.

Im nächsten Schritt werden entsprechende ästhetische Dynamiken der ausgewählten Szenen einer filmwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Diese Untersuchungsetappe soll Aufschluss darüber liefern, ob einzelne, physiologisch intensive Erfahrungen an filmästhetische Prinzipien geknüpft sind. Lassen sich konkrete, affizierende Muster in der Gestaltung erkennen? Hier gilt zunächst die These, dass der Pulsfrequenzanstieg von ProbandInnen stets parallel zu Szenen auftritt, in denen eine Atmosphäre von Beklemmung filmästhetisch inszeniert wird.

Welche konkreten Gefühle bei ProbandInnen durch die ästhetische Figuration hervorgerufen werden, ist selbstverständlich ausschließlich anhand der Bio-Daten nicht zu erschließen. Diese werden deshalb anhand einer am Exzellenzcluster Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin entwickelten Methode zunächst filmanalytisch hypothetisch bestimmt. Dieses Konzept der electronically based Media Analysis of Expressive Movement Images (eMAEX) ermöglicht eine Betrachtung von einzelnen sogenannten Ausdrucksbewegungseinheiten aus denen Szenen bestehen sowie deren zeitlicher Dynamik. Die Erkenntnisse aus dieser Analyse werden anschließend zusammen mit qualitativen Questionnaires der ProbandInnen in Verbindung gebracht, sodass filmanalytische Hypothesen und die Selbstwahrnehmung der ProbandInnen verglichen werden können.

Zusammenfassend gilt es also herauszufinden, ob sich spezifische filmästhetische Muster in physiologisch intensiven Szenen erkennen lassen. Falls dies der Fall ist, ist zu klären, ob es sich, wie vermutet, größtenteils um audiovisuelle Figurationen von Beklemmung handelt – und wie genau diese inszenatorisch umgesetzt sind. Schließlich sollen Varianten der filmästhetischen Prinzipien, welche der Erfahrung von Beklemmung zugrunde liegen, erkennbar gemacht werden. Dadurch, dass der Korpus meiner Untersuchungen Filme aus gänzlich verschiedenen Genres beinhaltet, wird es schließlich im Idealfall möglich sein, einen spezifischen generischen Modus physiologisch und filmanalytisch herauszuarbeiten – jenen der Beklemmung. Dieser wird zunächst hypothetisch als eine Variante des generischen Modus Suspense – also der audiovisuellen Komposition von Spannung – vermutet. Anhand solcher Erkenntnisse kommen wir der biologischen Erschließung filmischer Ästhetiken – und damit der Archivierung und Suche nach konkreten Gefühlserlebnissen – ein Stück näher.

  • Name: Bella Gurevich, M.A.
  • Fachbereich: Filmwissenschaft
  • Universität: Freie Universität Berlin

Die Autorin ist seit Januar 2021 in der Promotionsförderung der FNF.

freiraum #69