Eine Rezension von Sophie Sitter

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André Wiersig gelang als erstem Deutschen und 16. Menschen überhaupt im Open-Water-Schwimmen die sogenannte Ocean´s Seven. Dies bezeichnet die Summe von sieben ultralangen Kanalquerungen zwischen 14 Kilometer (Straße von Gibraltar) und 44 Kilometer (Kaiw´i Channel) in allen Weltmeeren. Die Schwimmstrecken unterscheiden sich, außer in der Länge, durch ihre jeweiligen Hauptschwierigkeiten: extreme Kälte, hai- und quallenverseuchte Gewässer, übermächtige Strömungen, die eine Abdrift von bis zu 40 Prozent verursachen können, Lebensgefahr durch unablässigen Tankerverkehr, unkalkulierbare Wetterwechsel.

Heutzutage ist das Schwimmen von Dover nach Calais ähnlich populär geworden wie das alljährliche Besteigen des Everest, das ganze Heerscharen zahlender Touristen anzieht. Die Wartezeit, um auf die Liste des begleiteten Schwimmabenteuers zu kommen, ist aber der Zeitdauer für die Erlaubnis zu einer Besteigung des Everest ziemlich ähnlich. Die Frauenquote ist bezüglich der erfolgreichen Versuche mit 40 Prozent übrigens doppelt so hoch wie die der Männer (20 Prozent). Schon 1926 durchschwamm die Amerikanerin Gudrun Ederle den Ärmelkanal in 14 Stunden und 39 Minuten – schneller als jeder Mann vor ihr! Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die athletischen Fähigkeiten und die Willenskraft der bis vor kurzem noch als das „schwache Geschlecht“ bezeichneten Frauen.

In seinem Buch „Nachts allein im Ozean. Mein Weg zu Ocean´s Seven“ erzählt der Autor André Wiersig zunächst von seinem sportlichen Werdegang, der ihn vom Radfahren über den Triathlon zum Schwimmen geführt hat. Daran schließt er das Schlüsselereignis an, das ihn als paderborner IT-Angestellten in seinen mittleren Vierzigern eine Karriere als Ozeanschwimmer beginnen ließ: Beim Familienurlaub im Vorfrühling am Mittelmeer scheiterte er bei dem Versuch, eine in 300 Metern Entfernung fixierte Boje anzuschwimmen, weil er nach wenigen Metern im 14 Grad Celsius kalten Wasser einfach erstarrte und am Ende froh darüber war, sofort wieder ans nahe Ufer gelangen zu können. Zuhause baute er sich umgehend eine Eistonne und duschte fortan sommers wie winters ausschließlich eiskalt. „Nicht einmal in der Eistonne sitzen, sondern jeden Tag, und nicht manchmal kalt duschen, sondern jeden Tag, ohne Unterbrechung, sommers wie winters, egal wie die Befindlichkeit ist“. Diese zwanghafte, aber zielführende Unbedingtheit des Wollens werden manche bewundernswert finden, andere werden eher glauben, dass sie das Buch eines Irren in der Hand halten. In der Folge beschreibt Wiersig seinen Einstieg in die Szene der Kanalschwimmer, über anfängliche Vorbereitungen im binnenländlichen Paderborn, von einer Bewährungsstätte nach der anderen auf den Ozeanen der Welt; stetig im Kampf alleine im Meer, begleitet nur von offiziellen Wettkampfbeobachtern und einem Kanu nahebei.

André Wiersig feiert in seinem Buch beständig das Pathos von Gefahr und Härte. Die Beschreibung seiner Ängste inmitten kreisender Haie, die beinahe tödliche Verwicklung in schwimmender Plastikfolie und manch andere erlebte Grenzwertsituation wechseln kontrastierend ab mit Situationen, die von großer Schönheit sind. Er erzählt von der Begegnung mit begleitenden Meeresbewohnern, Walen, Delphinen, überirdisch anmutendem Meeresleuchten und von den verbindenden Erlebnissen mit Gleichgesinnten.

Seine Leistungen sind für die Leser Anlass, nach dem Sinn seines gefährlichen und an die Grenzen der Anstrengungsfähigkeit gehenden Tuns zu fragen. Wie auch immer die oder der Einzelne dazu stehen mag – Edmund Hillary jedenfalls, der Erstbesteiger des Mount Everest, der in eisigen Höhen Ähnliches vollbracht hat, mit dem Unterschied eben, dass sein Streben in die Vertikale ging, antwortete auf die Frage eines Reporters, warum er denn um Gottes Willen auf diesen lebensgefährlichen Berg hinauf müsse, lakonisch: „Weil er da ist.“

Nachwort: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen…Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ Albert Camus

Freiheit heißt demnach, das eigene, selbstbestimmte Tun der Absurdität eines an sich sinnlosen Seins entgegenzustellen – und damit das Sosein des Lebens anzunehmen.

Bibliographischer Nachweis des Buches:

  • André Wirsig mit Erik Eggers
  • Nachts allein im Ozean. Mein Weg durch die Ocean´s Seven
  • Verlag Eriks Buchregal, Kellinghusen 2019/Nachdruck 2020

Sophie Sitter studiert im Master „Advanced Chemical Engineering“ am Imperial College London, GB. Seit Oktober 2017 ist sie in der Grundförderung der FNF.

freiraum #69