Die Plastikkrise an Nord- und Ostsee. Von Sibylla Elsing

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Vielleicht ist ein Ende des Lockdowns in Sicht, vielleicht kann man in diesem Sommer wieder Ferien an Deutschlands Nord- und Ostseestränden machen, vielleicht kann man die Pandemie ein wenig vergessen. Es sind jedenfalls wieder schöne Bilder zu sehen, von Menschen, die Sonne, Strand und Meer genießen. Es ist ein trügerisches Bild, denn Nord- und Ostsee sind wie alle Meere in keinem guten Zustand.

Etwa 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. Meere und Ozeane regulieren das Klima und den Stoffhaushalt der Erde, sie sind Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten, ein unschätzbares Refugium der Artenvielfalt, sie sind Transportwege und eine wichtige Nahrungsquelle, sie dienen der Energie- und Rohstoffgewinnung und sind für viele Menschen das Ziel ihrer Urlaubsträume. Dennoch werden die Meere vergiftet und vermüllt. Der Eintrag von Dünger, Pestiziden und Chemikalien, Ruß und Schweröl-Emissionen der Schifffahrt, Munitions- und Militäraltlasten, die Überfischung und die Vermüllung der Meere, all dies trägt zur Zerstörung mariner Ökosysteme bei. Mehr als 10 Millionen Tonnen Plastikmüll verschmutzen jedes Jahr unsere Weltmeere. Wurden in den 1950er Jahren weltweit knapp 1,5 Millionen Tonnen Plastik produziert, so sind es heute fast 400 Millionen Tonnen. Ein großer Teil davon landet leider auch im Meer. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen befinden sich bis zu 18.000 Plastikmüllpartikel auf jedem Quadratkilometer Meeresoberfläche. Was hier zu sehen ist, ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs, denn mehr als 90 Prozent der Abfälle sinken auf den Meeresboden. Hier entstehen durch hydrographische Wirbel an manchen Stellen gigantische Müllteppiche wie der „Great Pacific Garbage Patch“ im Nordpazifik zwischen Kalifornien und Hawaii. Auch auf dem Meeresboden der Nordsee liegen durchschnittlich 11 Kilogramm Müll auf einem Quadratkilometer.

Durch die Meeresverschmutzung sterben jedes Jahr bis zu 135.000 Meeressäuger und bis zu eine Million Meeresvögel. Um auf die Situation der Meere aufmerksam zu machen, wurde 2009 von den Vereinten Nationen der „World Oceans Day“ ausgerufen, der seither in jedem Jahr am 8. Juni begangen wird. Wirklich erforderlich sind hier jedoch gemeinsame Anstrengungen der Staatengemeinschaft und auch nationale, regionale und lokale Bemühungen für einen umfassenden Schutz der Meere.

Auch Nord- und Ostsee leiden unter dem massenhaften Eintrag von Plastikmüll durch die Schifffahrt, die Fischerei, die Offshore-Industrie und den Zufluss von Land. Geschätzte 380 Tonnen Kunststoff schwemmt der Rhein jedes Jahr in die Nordsee. Das regelmäßige Strandmüll-Spülsaummonitoring ergab für die Nordsee durchschnittlich fast 400 Müllteile pro 100 Meter Küstenlinie, für die Ostsee bis zu 150 Müllteile. Plastik und Kunststoffe machen dabei rund 80 Prozent des an deutschen Stränden gefundenen Mülls aus. Nach Informationen des Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) betrugen die Entsorgungskosten für die in den Jahren 2010 bis 2019 jährlich angefallenen rund 2,4 Kubikmeter anorganischen Mülls pro Kilometer Landesdeich durch den LKN circa 17.000 Euro pro Jahr. Zu den häufigsten Kunststofffunden an Nord- und Ostsee gehören Plastikschnüre, Styropor- und Folienfetzen, Netz- und Tauknäuel, Verpackungsmaterialien, Luftballons und Getränkeflaschen. Während an den Stränden der Nordsee 51 Prozent der Müllfunde aus seebasierten Quellen vor allem aus Schifffahrt und Fischfang stammen, ist der meiste Müll an den deutschen Ostseestränden auf Tourismus und Freizeitaktivitäten zurückzuführen. Für die Küstengemeinden, für die der Tourismus einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellt, verursacht dies zum Teil erhebliche Kosten. So musste die Nordseeküstengemeinde Neuharlingersiel für Strandreinigung, Mülltonnenleerung und Treibgutentsorgung 2016 ca. 65.000 Euro aufbringen, Sellin an der Ostsee 15.000 Euro für die Strandreinigung und 25.000 Euro für Algenentsorgung.

Plastikabfälle sind eine allgegenwärtige Gefahr für Fische, Vögel und Meeressäuger. Tausende sogenannter Geisternetze treiben als tödliche Fallen in den Weltmeeren. Größere Tiere verschlucken Netzteile und umhertreibende Plastiktüten und verhungern mit vollem Magen. Auch bei dreien der Pottwale, die im Frühjahr 2016 an der Nordseeküste strandeten, fanden Forscher Fischernetze im Magen. Einer Studie der Welternährungsorganisation (Food and Agriculture Organisation der Vereinten Nationen, FAO) zufolge gehen allein in den europäischen Meeren jährlich schätzungsweise 25.000 Netze mit einer Gesamtlänge von 1.250 Kilometern verloren. Die Zersetzung dieser Kunststoffnetze dauert bis zu 600 Jahre.
Ein weiteres Problem sind die sogenannten Dolly Ropes, Scheuerfäden, die von der Fischerei genutzt werden, um die Fischereinetze bei Berührung mit dem Meeresboden vor dem Durchscheuern zu bewahren. Die Bündel aus Polyethylenfäden werden an der Unterseite von Grundschleppnetzen eingeknotet oder dort mit Kabelbindern befestigt. Dolly Ropes sind Verschleißartikel, sie verfilzen und zersetzen sich nach und nach. Ihr Abrieb und damit auch ihr Eintrag in die Meeresumwelt ist damit vorbestimmt. Bis zu 25 Prozent der 100 Tonnen Seil, die jährlich benutzt werden, reißen bestimmungsgemäß ab. Die Seile gelangen an die Meeresoberfläche und werden dann häufig von Vögeln zum Nestbau verwendet. Geisternetze und anderes Fischereiplastik machen inzwischen ein Zehntel der kompletten Plastikmüllverschmutzung der Meere aus. Ein Pilotmonitoring der Basstölpelkolonie auf Helgoland 2015 ergab, dass 97 Prozent der Nester Kunststoffe, Leinen und Schnüre, aber auch Taue und Verpackungen enthielten. Die Sterblichkeit der Jungvögel der Basstölpel lag verglichen mit der Normalsterblichkeit infolge von Verheddern und Strangulierungen etwa zwei- bis fünfmal höher.

Eissturmvögel dienen als Indikatorart für die Aufnahme von Plastikpartikeln von der Meeresoberfläche. 94 Prozent der tot aufgefundenen Vögel hatten Kunststoffe im Magen. Damit wird das schon 1992 im Meeresschutzübereinkommen für den Nordostatlantik (Oslo-Paris-Konvention, OSPAR) festgeschriebene ökologische Ziel von nur 10 Prozent der Vögel mit Kunststoff im Magen weit verfehlt. Laut einer Publikation der EU Technical Group on Marine Litter sind bereits 1.179 marine Arten in Nord- und Ostsee regelmäßig von schädlichen Auswirkungen des Mülls im Meer betroffen. 17 Prozent dieser Arten stehen auf der roten Liste oder sind zumindest als bedroht eingestuft.

Während des Zersetzungsprozesses von Plastik, der mehrere Hundert bis Tausende an Jahren dauern kann, zerfallen die Kunststoffe in immer kleinere Partikel. Oft werden gefährliche Inhaltsstoffe wie Bisphenol A, Phtalate oder Flammschutzmittel dabei freigesetzt, die das Erbgut und den Hormonhaushalt mariner Lebewesen beeinflussen können. Die Mikroplastikpartikel, die kleiner als 5 Millimeter sind, gelangen problemlos in die Körper von Meerestieren und können durch den Verzehr auch in den menschlichen Organismus aufgenommen werden. Mikroplastik gelangt aber auch über das Abwasser in Flüsse und Meere. Es wird in Kosmetikprodukten wie Duschgel und Peeling und Putzmitteln zugesetzt. Nach der Studie UMSICHT des Forschungsinstituts Fraunhofer im Auftrag des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) werden so jährlich rund tausend Tonnen Mikroplastik ins Abwassersystem eingeleitet. Der Abrieb von Autoreifen ist in Deutschland derzeit aber die größte Quelle des Eintrags von Mikroplastik in die Umwelt. Nach Mitteilung des Umweltbundesamtes (UBA) von 2017 fand sich bei einem Pilotmonitoring von Plastikpartikeln in den Mägen von 258 im Freiwasser und 132 am Meeresboden lebenden Fischen in Nord- und Ostsee in 69 Prozent der untersuchten Fischproben Mikroplastik.

Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Plastikmüll in den Meeren wird weltweit auf etwa 13 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Diese Kosten werden aber meist nicht von den Verursachern getragen. In Deutschland zahlen Unternehmen, die verpackte Ware verkaufen, eine Lizenzabgabe auf Verpackungen, wodurch Sammel- und Recyclingsysteme finanziert werden. In den meisten anderen Ländern ist dies noch nicht der Fall. Doch Deutschland exportierte 2018 auch 25,2 Millionen Tonnen Abfall, wie der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE) mitteilte. Oft landet der so exportierte Plastikmüll dann doch wieder in den Weltmeeren. 2018 hat die Europäische Union die European Strategy for Plastics in a Circular Economy verabschiedet. Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben sich dabei auch auf Regeln geeinigt, die sich auf die zehn häufigsten Einmalplastikprodukte beziehen, die an den europäischen Stränden gefunden werden. Der World Wildlife Fund (WWF) fordert die Beteiligung der verantwortlichen Unternehmen an den Entsorgungskosten, eine rechtlich bindende Konvention gegen Plastikmüll in den Meeren, strengere Vorschriften für ein umweltverträgliches Produkt- und Verpackungsdesign, Reglementierungen für Wiederverwertung und Recycling und ein möglichst flächendeckendes Umweltmonitoring.

Der Müll in den Meeren ist ein globales Problem, es bedarf regionaler und globaler Anstrengungen, um die Verschmutzung der Meere zu verringern. Zum Meeresschutz kann jede und jeder schon beim Einkauf durch die Entscheidung für umweltbewusste Produkte beitragen. Unser Konsum- und Wegwerfverhalten kann dazu beitragen, unsere Meere zu erhalten.

freiraum #70