Ein Interview mit Christian Lindner. Von Franca Bergunde

Interview


Fünf Landtagswahlen und eine Bundestagswahl machen das Jahr 2021 zu einem wahren Superwahljahr. Doch was kennzeichnet dieses politische Jahr? Was ist bei diesen Wahlen wichtig und vielleicht sogar wichtiger denn je? Mit Christian Lindner spreche ich nicht nur über aktuelle und wahlentscheidende Themen, sondern auch darüber, was eine zukünftige Regierung nun leisten muss.

Deutschland befindet sich aktuell in einem Superwahljahr. Neben Kommunal- und Landtagswahlen steht auch die große Bundestagswahl im September an. Was zeichnet dieses Superwahljahr aus? Was ist dieses Mal anders?

Christian Lindner: Wir erleben in diesem Jahr eine politische Zäsur. Viele junge Menschen kennen keine andere Bundeskanzlerin als Angela Merkel. Nach 16 Jahren beginnt jetzt eine neue politische Ära. Unser Land braucht eine grundlegende Erneuerung. Das Bildungssystem muss dringend reformiert werden. Wir brauchen mehr Gemeinsamkeiten zwischen den 16 Bildungssystemen der Länder und einen echten Epochenwechsel bei der digitalen Bildung. Die öffentliche Verwaltung muss bürgernaher und digitaler werden. Und die Wirtschaft braucht gerade nach der Corona-Krise einen neuen Aufbruch und Wachstumssignale. Bei dieser Wahl entscheidet sich, ob wir uns international künftig hinten oder vorne einreihen. Die Wahl ist also eine echte Richtungswahl für das kommende Jahrzehnt.

Lange Zeit stand der Klimawandel stark im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. In den letzten Monaten wurde dieses Thema jedoch tendenziell von der Pandemie überschattet. Welche Bedeutung wird der Klimaschutz dennoch bei der diesjährigen Bundestagswahl spielen?

Christian Lindner: Klimaschutz ist eine Menschheitsaufgabe. Die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft stellt uns vor Herausforderungen, bietet aber auch große Chancen. Wir brauchen einen echten Neustart in der Klimapolitik, denn das bisherige Klein-Klein ist nicht nur teuer, sondern auch ineffektiv. Wir stehen zu den Pariser Klimazielen. Für die konkrete Umsetzung aber brauchen wir einen verlässlichen Ordnungsrahmen.

Als Freie Demokraten schlagen wir das in diesem Rahmen härteste Klimaschutz-Konzept überhaupt vor – ein CO2-Limit, das für alle Sektoren gleichermaßen gilt. Innerhalb dieses Limits werden Emissionsscheine ausgegeben. Jeder, der innerhalb des Limits noch CO2 ausstoßen will, muss solche Scheine erwerben. Das erzeugt eine marktwirtschaftliche Logik, CO2 immer dort einzusparen, wo es am effizientesten und günstigsten ist. Auf diesem Weg lösen wir einen Anreiz aus, in Technologien und Innovationen zu investieren, die CO2 vermeiden. Denn mit Knappheiten kann die Marktwirtschaft immer besser umgehen als jede Staatswirtschaft.

Welche Themen würden Sie dieses Jahr als besonders wahlentscheidend charakterisieren?

Christian Lindner: Für uns ist klar: Das Fundament unseres Wohlstandes und unserer sozialen Errungenschaften ist eine erfolgreiche Wirtschaft. Nur wenn wir im internationalen Wettbewerb auch weiterhin gut aufgestellt sind, können wir als Gesellschaft insgesamt weiter vorankommen. Wenn ich unter dieser Voraussetzung auf unsere politischen Mitbewerber schaue, dann stelle ich fest, dass der Wille zum Schuldenmachen, zur steuerlichen Mehrbelastung, zur Bürokratisierung bei den anderen Parteien deutlich erkennbar ist. Im Höchststeuerland Deutschland sind solche Gedankenspiele Sand ins Getriebe des wirtschaftlichen Aufschwungs, den wir dringend brauchen.

Die Corona-Pandemie ist nun seit mehr als anderthalb Jahren ein sehr präsentes Thema in unserem Alltag. Größtenteils mussten die zwischenmenschlichen Kontakte stark eingeschränkt werden. Inwiefern hat die Pandemie damit den Wahlkampf ins Internet und auf Social Media-Plattformen verschoben?

Christian Lindner: Unser aller Leben hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren verändert. Das macht sich auch noch im Wahlkampf bemerkbar. Die Wahlkampfveranstaltungen sind kleiner als gewohnt, dichte Menschenansammlungen versuchen wir nach wie vor zu vermeiden. Der Online-Wahlkampf ist auch deshalb sehr relevant.

Dennoch: Für uns ist es auch gerade in diesen Zeiten wichtig, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Deshalb war für mich selbstverständlich, dass wir im Rahmen unserer Sommertour im Norden und Süden Deutschlands zu den Menschen vor Ort gehen, um mit ihnen über die Herausforderungen der kommenden Jahre zu sprechen.

Bleiben wir noch einmal kurz bei Corona. Vor allem unter jungen Menschen hat sich zunehmend ein Gefühl der Einsamkeit verbreitet, viele fühlen sich von der Politik vernachlässigt. Ist diese Pandemie ein Treiber der Politikverdrossenheit?

Christian Lindner: Nein, das glaube ich nicht. Ich erlebe in den letzten Monaten eher ein besonderes Maß an politischem Interesse und Engagement. Das fängt im Kleinen an: Menschen haben sich am Anfang der Pandemie organisiert, um etwa ältere Menschen beim Einkaufen zu unterstützen. Ich sehe aber auch bei den großen Themen ein gesteigertes politisches Interesse. Etwa bei den Fragen einer besseren Pandemiebewältigung: Wie können wir es schaffen, schneller aus der Pandemie zu kommen? Wie können wir einen neuen Lockdown verhindern? Wie kann ein besserer Schutz der Menschen gewährleistet werden? Welche Maßnahmen können wir ergreifen, damit sich mehr Menschen so schnell wie möglich impfen lassen, sodass wir sicher durch Herbst und Winter kommen? Und wie können wir unsere Betriebe vor einer Corona-Insolvenz schützen? Das sind alles Fragen, die die Menschen umtreiben. Ich habe in den vergangenen Monaten sehr viel Zuschriften bekommen von Menschen, denen diese Fragen nicht egal waren. Nein, ich glaube es gibt ein gesteigertes Interesse an der Aufgabenstellung, wie wir unser Gemeinwesen organisieren.

Viele Studierende fühlten sich während der Corona-Pandemie im Gesamtgeschehen kaum berücksichtigt. Was würden Sie als Grund dafür nennen, dass Studierende parteiübergreifend vergessen wurden? Und was plant die FDP, um die Situation der Studierenden zu verbessern?

Christian Lindner: Keine Frage: Die junge Generation ist bei der Corona-Pandemie hinten runtergefallen. In der Tat hätte ich mir an den Universitäten mithilfe von intelligenten Konzepten mehr Leben vorstellen können, als dies der Fall war. Videokonferenzen ersetzen keine Präsenzlehre. Die Studienzeit ist doch ein besonderer Lebensabschnitt, der einmalig ist. Die FDP-Fraktion hat die Sorgen und Nöte der Studierenden in der Corona-Zeit früh in den Blick genommen. Wir haben die Bundesregierung zum Beispiel aufgefordert, die psychische Gesundheit junger Menschen in Ausbildung und Studium endlich wissenschaftlich untersuchen zu lassen.

Viele Studierende gerieten durch die Lockdowns auch wirtschaftlich unter Druck, weil Nebenjobs wegfielen. Dies zeigt, dass wir dringend eine Bafög-Reform brauchen. Wir müssen eine elternunabhängige Finanzierung des Studiums sicherstellen. Die FDP hat im Bundestag mit dem Baukasten-Bafög einen Vorschlag dazu gemacht. Das Kindergeld würde hier durch ein Bildungsgeld ersetzt, es gibt weitere Zuschüsse und Darlehen müssen erst nach einem langen Zeitraum zurückgezahlt werden.

Die Corona-Zeit ist allerdings nicht das erste Mal, dass die Interessen junger Menschen zu wenig berücksichtigt werden – nur ist es jetzt eben besonders sichtbar gewesen. Denken wir zum Beispiel an das Thema Generationengerechtigkeit bei der Rente. Wir sehen schon lange, dass die Stimme der jüngeren Generation nicht ausreichend gehört wird. Deshalb werbe ich für mehr Partizipation der Jugend. Unsere Demokratie basiert auf dem Mitmachen möglichst vieler. Meckern hilft nicht, man kann und soll sich aktiv einbringen. Die Idee des Citoyens, also des Staatsbürgers, lebt davon, dass die Menschen sich ganz im Geiste der Aufklärung einbringen und ihr Gemeinwesen selbst mitgestalten. Im Kreis der Stipendiaten nehme ich diesen Geist im Übrigen besonders stark wahr.

Wir möchten noch einmal auf Ihre Ambitionen, Finanzminister zu werden, eingehen. Durch Corona wurden die Staatsausgaben deutlich erhöht und bisher scheint kein Ende in Sicht. Wird eine allgemeine Finanzierung der Ausgaben möglich sein, während an der Schuldenbremse festgehalten und von Steuererhöhungen abgesehen wird?

Christian Lindner: Das ist nicht nur möglich, ich halte es für notwendig, wenn wir den wirtschaftlichen Aufschwung nicht im Keim ersticken wollen. Gleichzeitig ist die Einhaltung der Schuldenbremse ein Gebot der Generationengerechtigkeit – wir sprachen ja bereits davon. Dass die Idee der hohen Steuern kein Exportschlager ist, liegt auf der Hand. Deutschland ist Spitzenreiter bei der Steuer- und Abgabenlast. Dennoch zerfällt unsere Infrastruktur, der Investitionsstau ist enorm. Wir bremsen uns selbst. Zu viel Geld fließt in Staatskonsum und Umverteilung, zu wenig in Investitionen und Innovationen. Deshalb ist es umso wichtiger, die Bremsen zu lösen und wieder Vertrauen in die Schaffenskraft der Menschen zu haben. Wenn wir gute Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum schaffen, muss uns um solide finanzierte öffentliche Haushalte auch nicht bange sein.

Abschließend noch ein Blick in die Zukunft: Wird es nach Ihrer Einschätzung und im Hinblick auf eine mögliche Regierungsbeteiligung in der kommenden Legislaturperiode überhaupt Zeit geben, neue Projekte anzustoßen oder wird es vorrangig darum gehen, mit den (Nach-) Wirkungen und Herausforderungen der Pandemie umzugehen?

Christian Lindner: Eine neue Regierung muss den Anspruch haben, die Herausforderung der Zukunft anzugehen und Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit anzubieten. Ein Verwalten des Status quo wäre fatal für unser Land. Ob unser Bildungssystem, der Staat und die Verwaltung oder auch unsere Wirtschaft und die Transformation in eine CO2-neutrale Ökonomie: Die Baustellen sind zu groß, um sie weiter aufzuschieben. Wir müssen jetzt anpacken!

Eine abschließende Frage: Was denken Sie, kann dieses Superwahljahr einen Neustart für das Land bringen?

Christian Lindner: Ich bin davon überzeugt. Wir haben jetzt die Chance, die richtigen Weichen zu stellen. Diese Chance dürfen wir nicht verpassen. Ein Neustart ist möglich. Ich hoffe, dass sich die Freien Demokraten mit möglichst viel Gewicht nach der Bundestagswahl entsprechend werden einbringen können.

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Franca Bergunde.

Christian Lindner  ist Vorsitzender der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag und Bundesvorsitzender der FDP.


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