Maximilian Sepp im Gespräch mit Sportwissenschaftler Dr. Christoph Grimmer.
Interview
freiraum: Herr Grimmer, Sie haben verschiedene Sportarten aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt: Sie waren Journalist, Wissen- schaftler, Berater und sicherlich auch Sportbegeisterter. Mit welchen Augen sehen Sie heute Sport im Fernsehen?
Grimmer: Aufgrund meiner beruflichen Vergangenheit beobachte ich automatisch die journalistische Begleitung des Sports und die Kommunikation der beteiligten Akteure. Es gibt auch einige Ereignisse, bei denen ich spezielle Hintergründe kenne. Wenn man zum Beispiel weiß, dass der frühere Mediendirektor von Bayern München heute der Kommunikationsberater von Niko Kovac ist, dann ist der Trainerwechsel von Kovac zu den Bayern nicht mehr so überraschend. Aber ich kann mich auch sehr gut zurücklehnen und als Fan zuschauen.
Sie haben 2012 einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben, der den Namen »König Fußball – und was für die anderen übrig bleibt« trägt. Darin kommt folgender Satz vor: »Ein Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und Sendeflächen [zwischen den Sportarten] ist entbrannt«. Ist dieser Kampf nicht schon längst entschieden?
»Es gibt drei Mediensportarten: Fußball, Fußball, Fußball.« Das sagt man scherzhaft in der Wissenschaft. Es ist klar, dass in dieser Hinsicht in Deutschland nach dem Fußball lange nichts kommt. Der Wettbewerb zwischen den anderen Sportarten, die sich um die weiteren Sendeplätze streiten, ist umso größer. Handball, Basketball, Tennis, Eishockey, Leichtathletik: Das sind alles Sportarten, die in Deutschland ein gewisses Potenzial an Aufmerksamkeit haben. Aber natürlich sind die Plätze begrenzt – und der Fußball dominiert alles.
Woran liegt es eigentlich, dass der Fußball in Deutschland so sehr im Vordergrund steht?
Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: Durch die große Präsenz, die der Fußball seit Jahrzehnten in Deutschland hat, ist in der Bevölkerung auch das Wissen über diese Sportart am besten ausgeprägt. In der Wissenschaft ist dabei die Konsumkapitaltheorie gut anwendbar: Diese besagt, dass sich Leute eher mit dem auseinandersetzen, von dem sie schon Ahnung haben, weil sie davon einen größeren Nutzen haben. Natürlich verbindet aber auch die Geschichte Deutschland mit dem Fußball: Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz war für die deutsche Nation nach dem Kriegsende eine Art Wiederauferstehung. Deutschland gewann nicht nur die WM, sondern auch wieder ein eigenes Selbstbewusstsein.
Meinen Sie, dieser nationale Stolz, der von dem WM-Sieg ausging, hätte auch von einer anderen Sportart ausgelöst werden können?
Das Besondere an diesem Turnier war die Konstellation: Deutschland ist nicht als Favorit zur WM gefahren und hat am Ende die scheinbar übermächtigen Ungarn geschlagen. Außerdem ist Fußball ein Teamsport. Hätte Boris Becker als Einzelsportler seinen Wimbledon-Titel 30 Jahre früher gewonnen (1955, Anm. d. Red.), hätte das vermutlich nicht dieselben Auswirkungen gehabt.
Und dieses Gefühl hält bis heute an?
Ja, und es sind noch weitere Faktoren dazugekommen: Der Sport wurde ansprechender für Frauen und Familien gestaltet, indem der Komfort in den Stadien verbessert wurde. Spätestens seit den Fanmeilen bei der WM 2006 merkt man, dass Fußball ein gesamtgesellschaftliches Ereignis ist. Der Anteil der Frauen an der Einschaltquote ist manchmal sogar höher als der der Männer.
Also schauen mehr Frauen als Männer Fußball?
So kann man das nicht sagen. Es gab bei der WM 2014 ein Spiel, bei dem eine klassische Messung der Fernsehzuschauer ergeben hat, dass mehr Frauen als Männer zugeschaut haben. Allerdings muss man dabei natürlich auch bedenken, dass Public Viewing nicht berücksichtigt ist.
Warum schaffen es die anderen Sportarten in Deutschland nicht, eine ähnliche Aufmerksamkeit wie der Fußball zu bekommen?
Ein Faktor ist die Abhängigkeit von einzelnen Athleten. Die ist bei Mannschaftssportarten natürlich geringer, weil es immer einen neuen Superstar gibt, wenn ein anderer geht. Diese Sportarten sind deshalb unabhängiger von Einzelpersonen. Wenn Roger Federer irgendwann nicht mehr spielt, wird die Popularität des Tennissports in der Schweiz mit Sicherheit wieder nachlassen. Ähnlich war es ja auch in Deutschland, nachdem Steffi Graf und Boris Becker aufgehört haben.
Gab es schon einmal konkrete Versuche, einen Sport attraktiver zu machen?
Es gab schon einige Versuche der Medialisierung verschiedener Sportarten. Das ist der Fachbegriff, von dem man spricht, wenn man etwas medial ansprechender gestalten möchte. Beim Beachvolleyball wurde zum Beispiel vorgeschrieben, wie viele Quadratzentimeter die Kleidung der Spielerinnen haben darf, um den Sport sexy zu machen.
Interessieren sich die Deutschen überhaupt noch genug für die anderen Sportarten außer Fußball?
Neben dem sportlichen Erfolg und neben der Medialisierung sind die Geschichte und Tradition von Sportarten wichtige Faktoren: Lacrosse in Kanada, Cricket in England und Indien, in den USA vor allem Basketball, Football und Eishockey. In Deutschland hätte deshalb gerade Handball eine gute Chance, sich gegenüber anderen Sportarten besser zu platzieren. Der deutsche Handball war nach dem WM-Sieg 2007 im eigenen Land auf einem sehr guten Weg, aber konnte die Begeisterung langfristig nicht konservieren.
Gibt es eine Sportart, die sich aus ihrer Sicht am besten neben dem Fußball verkauft?
Wintersport hat den Vorteil, dass er läuft, wenn bei uns der Fußball ruht. Biathlon bringt viele Voraussetzungen mit: Die Kombination aus Laufen und Schießen verlangt nicht nur Fitness, sondern auch Konzentration. Außerdem gibt es bei Sprintwettbewerben direkte Duelle und damit besondere Dynamik. Ein wichtiges Motiv, das manchmal belächelt wird, sind die verschneiten Winterlandschaften, die viele Zuschauer am Sonntagmorgen gern sehen möchten.
Sie sprechen in einem Ihrer Artikel von verschiedenen Faktoren für erfolgreiche TV-Sportarten: Unter anderem von sportlichem Format, Sponsoring, Medienrechten und Eventorganisation. Werden diese Aspekte von den Verbänden nicht genügend ausgenutzt?
Ich glaube, dass die Verbände gut beraten wären, nicht auf das kurzfristige Geld aus zu sein, sondern die langfristigen Effekte im Blick zu haben. Einige Verbände sehen nicht sich, sondern eher die öffentlich-rechtlichen Medien in der Pflicht, ihren Sport öffentlich sichtbar zu machen. Bei manchen Verbänden fehlen auch einfach die nanziellen Mittel, um mehr für ihre Vermarktung zu tun. Die Medien müssen sich aber in gewisser Weise auch an dem Interesse der Bevölkerung orientieren. Die Einschaltquoten sind bei manchen Sportübertragungen so schlecht, dass es schlicht keinen Sinn macht, sie häufiger zu übertragen. Trotzdem berichten die Öffentlich-Rechtlichen schon sehr breit im Sportprogramm und versuchen die sportliche Vielfalt auch in ihren Programmen widerzuspiegeln.
Wird den Sportarten allein damit geholfen, dass die Medien mehr berichten?
Naja, hier kommt wieder die Konsumkapitaltheorie zum Tragen: Wenn die Medien die Zuschauer häufiger mit einer Sportart konfrontieren und diese sich damit auseinandersetzen, dann besteht eine höhere Chance, dass sich die Zuneigung zu dieser Sportart erhöht und die Zuschauer auch zur nächsten EM oder WM einschalten.
Manche Sportarten haben sich in ihren Regeln oder Wettkampftypen an die Medien angepasst. Im Biathlon wurde zum Beispiel der Massenstart eingeführt, um den Wettkampf für die Zuschauer packender zu machen. Sind solche Änderungen vielleicht sogar notwendig, damit sich Sportarten attraktiver darstellen?
Sicherlich, da werden auch schon verschiedene Maßnahmen umgesetzt. Im Tischtennis wurde von Zelluloid auf Plastik umgestiegen. Die Bälle sind größer, haben weniger Rotation und machen das Spiel langsamer, damit der Ball im Fernsehen besser zu sehen ist. Es gibt häufiger und in vielen Sportarten Änderungen, was die Regeln und die Ausrüstung anbetrifft, um den Sport interessanter für die Zuschauer zu machen. Es ist wertvoll, darüber nachzudenken, wie man sich noch besser vermarkten kann. Nur auf Vermarktung und Kommerzialisierung zu schauen, wäre aber auch ein Fehler. Fans sind oft traditionsbewusst und gegenüber Veränderungen am Sport zurückhaltend.
Ähnliche Diskussionen gibt es ja aktuell auch zum Videobeweis in der Fußball-Bundesliga.
Richtig. Der Sport wird gerechter, allerdings auf Kosten der Emotionen. Damit verändert sich das Wesen des Fußballs. Das spontane Element des Fußballs hat durch die Einführung des Videobeweises sicherlich abgenommen.
Ein besonderes Merkmal des Fußballs in Deutschland sind die sehr aktiven Fans. Häufig sieht man jedoch auch gewalttätige Szenen in den Stadien oder Pyrotechnik in den Kurven. Wird der Fußball in Deutschland zu ernst genommen?
Das sind ja eigentlich zwei Fragen: Wird der Fußball in Deutschland ernster genommen als anderswo? Und ist das ein fußballspezifisches Problem? Auf die erste Frage kann ich mit einem sicheren ›Nein‹ antworten. In England oder Italien scheinen die Fans insgesamt betrachtet noch leidenschaftlicher. Zur zweiten Frage: In einem Fußballstadion kommen ja teilweise 80.000 Menschen zusammen. Da ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass 50 bis 100 Gewaltbereite darunter sind. Außerdem trägt Alkohol seinen Teil bei – das Risiko ist bei Erdbeeren auf der Tribüne in Wimbledon geringer.
Die Fanausschreitungen gehören zu den Schattenseiten des Sports, über die sich auch viele Fans ärgern. Hinzu kommen die Korruptionsvorwürfe gegen die FIFA, die Intransparenz beim DFB und steinreiche Oligarchen, die ganze Vereine aufkaufen. Wird der Fußball immer unattraktiver?
Natürlich gibt es durch diese Ereignisse einen Makel am Fan-Liebling Fußball. Wenn man sich aber die Zahlen anschaut, tut das der Beliebtheit des Fußballs keinen Abbruch.
Bleibt das auch langfristig so? Die WM-Vergaben nach Russland und Katar haben doch zu größeren Protesten gegenüber der FIFA geführt.
Bei einzelnen Sportinteressierten mag es eine zunehmende Distanz zum Fußball geben. Mit Blick auf Deutschland muss man selbstkritisch festhalten: Die letzten beiden Referenden über eine Bewerbung für die Olympischen Spiele in München beziehungsweise Hamburg sind jeweils negativ ausgefallen. Und wenn Länder wie Deutschland nicht mehr bereit sind, Großereignisse auszutragen, dann sollten wir uns nicht beschweren, dass diese Veranstaltungen in Russland und Katar stattfinden.
Wir kommen nochmal zurück auf den Unterschied zwischen dem Fußball und allen anderen Sportarten: Braucht es in Deutschland einfach ein neues Wunderkind, um eine Sportart wieder richtig groß zu machen?
Man muss sich erst einmal die Frage stellen, ob es überhaupt ein Problem mit dem Status Quo gibt. Es ist eindeutig, dass der Fußball populärer ist als andere Sportarten. Daran gibt es auch zum Teil berechtigte Kritik, was die Vielfalt der Interessen angeht, denn andere Leistungssportler haben sicherlich auch ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit verdient. Gleichzeitig gibt es aber gewisse Marktmechanismen, die das Angebot nach der Nachfrage und damit nach den Interessen der Zuschauer und Sponsoren regelt. Eine Geschichte, wie die von Boris Becker bei seinem Wimbledon-Sieg mit 17 Jahren, lässt sich auch nicht einfach wiederholen. Sechs Jahre später hat Michael Stich Wimbledon als zweiter Deutscher gewonnen – das hat aber keinen mehr interessiert. Das erste Wunderkind ist das Besondere. Das Zweite hat es immer schwerer. ■
Zur Person
Dr. Christoph Grimmer hat in Hamburg Sportwissenschaft auf Diplom in der Studienrichtung Medien & Journalistik studiert. Während seines Studiums absolvierte er verschiedene Praktika in fast allen großen Sportredaktionen Deutschlands. Außerdem arbeitete er sechs Jahre als freier Mitarbeiter bei der Deutschen Presse-Agentur. Seine Promotion behandelte das Arbeitsverhältnis von Pressesprechern der Fußball-Bundesliga zu Journalisten. In Forschung und Lehre arbeitete er dreieinhalb Jahre an der Universität Tübingen. In dieser Zeit arbeitete Grimmer zudem beratend in der Kommunikation des VfL Wolfsburg. Anschließend wurde er persönlicher Referent von Katja Suding und stellvertretender Pressesprecher der FDP- Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Seit Anfang dieses Jahres ist Grimmer Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Crailsheim in Baden-Württemberg. Trotz seiner liberalen Wertorientierung ist das VSA-Mitglied aus Überzeugung parteilos.
freiraum #58