Wir schätzen die Welt konsequent viel schlechter ein, als sie nachweislich ist. In seinem Buch „Factfulness“ identifiziert Hans Rosling zehn zutiefst menschliche, aber oft irreführende Instinkte, die uns permanent das Gefühl vermitteln, die Welt sei schlecht und werde sogar immer schlechter. Eine Literaturempfehlung aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum".
Wir starten mit einem kleinen Quiz. Beantworte folgende Fragen möglichst spontan und natürlich ohne Google:
1. In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt …
a) … fast verdoppelt.
b) … nicht verändert.
c) … fast halbiert.
2. Wie viele der 1-jährigen Kinder auf der ganzen Welt sind heute gegen Krankheiten geimpft?
a) 20 %
b) 50 %
c) 80 %
3. Weltweit haben 30-jährige Männer im Durchschnitt 10 Jahre lang eine Schule besucht. Wie lange sind 30-jährige Frauen zur Schule gegangen?
a) 9 Jahre
b) 6 Jahre
c) 3 Jahre
Die korrekten Antworten sind: 1c); 2c); 3a)
Wie ist es dir mit den Fragen ergangen? Hast du danebengelegen? Hattest du das Gefühl, du musst raten, anstatt zu wissen?
Hans Rosling, Professor für International Health und TED-Referent, hat in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit festgestellt, dass nicht nur seine Student:innen, sondern auch Journalist:innen, Politiker:innen und Nobelpreisträger:innen diese und vergleichbare Fragen zu globalen Trends systematisch falsch beantworten. So falsch sogar, dass ein hypothetischer Schimpanse, der die Antworten zufällig auswählt, mit seiner Trefferquote von 33,3 Prozent viel besser abschneiden würde.
Die erste Frage beantworten in Deutschland beispielsweise nur sechs Prozent der Befragten korrekt. Doch so schwer es zu glauben sein mag: Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, hat sich in den letzten 20 Jahren wahrhaftig halbiert. Und die Welt – bei aller Unvollkommenheit und allem Verbesserungsbedarf – ist tatsächlich in einem viel besseren Zustand, als wir für gewöhnlich denken.
Warum also schätzen wir die Welt konsequent viel schlechter ein, als sie nachweislich ist? In seinem Buch „Factfulness: Ten reasons we’re wrong about the world – and why things are better than you think“ (2018, Sceptre) identifiziert Rosling zehn zutiefst menschliche, aber oft irreführende Instinkte, die uns permanent das Gefühl vermitteln, die Welt sei schlecht und werde sogar immer schlechter.
Da gibt es zum Beispiel den Straight Line Instinct (dt. etwa: Gerade-Linie-Instinkt):
1. Aktuell leben 2 Milliarden Kinder (0-14 Jahre) auf der Welt. Wie viele Kinder werden es im Jahr 2100 sein?
a) 4 Milliarden
b) 3 Milliarden
c) 2 Milliarden
Am deutlichsten wird dieser Instinkt bei der (Fehl-)Annahme, dass die Weltbevölkerung einfach immer weiter und weiter wachsen wird. Denn die Zahlen zeigen ja: Aktuell wächst die Weltbevölkerung – und zwar ziemlich schnell. Und wir sind ganz automatisch geneigt zu glauben, dass diese ansteigende Linie immer genauso weiter gehen wird. Aber ihr habt das Muster inzwischen sicher erkannt: Die korrekte Antwort ist c) – es werden etwa genauso viele Kinder sein wie heute, die Linie wird abflachen. In Deutschland glauben aber 85 Prozent (!) der Befragten, dass die Linie stetig gleich ansteigen wird, es also immer mehr Kinder und damit immer mehr Menschen geben wird, die auf unserer Erde leben und Ressourcen verbrauchen. Natürlich bekommt man angesichts dieser Vorstellung Angst.
Doch die Vereinten Nationen gehen fest davon aus, dass sich der Anstieg der Weltbevölkerungs-Linie in den nächsten Jahrzehnten verlangsamen und um das Jahr 2100 bei etwa zehn bis zwölf Milliarden Menschen abflachen wird – tatsächlich kann man die Verlangsamung schon heute beobachten. Der Grund ist simpel: Früher hatten die Menschen viele Kinder, aber die Kindersterblichkeit war auch sehr hoch. Dank der Errungenschaften der Medizin und anderer Verbesserungen überleben seit etwa Anfang des 20. Jahrhunderts viel mehr Kinder (s. 2. Frage). Mehr Kinder leben, das ist eine wundervolle Entwicklung – doch die Bevölkerung nimmt logischerweise zu.
Aber: Wenn mehr und mehr Menschen die extreme Armut verlassen (s. 1. Frage) und ihre Kinder daher mit hoher Wahrscheinlichkeit überleben, wenn Männer und vor allem Frauen immer besser gebildet sind (s. 3. Frage), wenn Verhütungsmittel leichter zugänglich werden – dann entscheiden sich die allermeisten Menschen dafür, weniger Kinder zu bekommen.
Weniger Kinder bedeuten schließlich auch besser genährte und gebildete Kinder. Und den Prognosen nach wird sich dieser Trend weiter fortsetzen. Die Weltbevölkerung wird noch eine Zeit lang ansteigen, da die vielen Kinder von heute zu einem großen Prozentsatz das Erwachsenenalter erreichen werden – aber es kommen nicht mehr und mehr, sondern immer weniger Kinder nach.
So funktioniert Factfulness: Um unserer inneren Schwarzseher-Tendenz zu begegnen, propagiert Hans Rosling sein Konzept, das er definiert als „the stress-reducing habit of only carrying opinions for which you have strong supporting facts“. Das bedeutet: Anstatt uns auf unsere oft von Angst, Sorge oder Fehleinschätzung geprägten Instinkte zu verlassen, können wir eine Weltsicht annehmen, die ausschließlich auf nachprüfbaren Fakten beruht. Zu jedem Instinkt liefert Rosling darum gegenteilige Daten und auch konkrete Taktiken, um unsere irreführenden Denkmuster zu kontrollieren. Dieser Ansatz erlaubt es uns auch, unsere Energie auf diejenigen Aspekte in der Welt zu fokussieren, die ihrer tatsächlich bedürfen.
Zum Abschluss eine persönliche Notiz von mir, der Autorin dieses Artikels: Als ich vom Thema für die aktuelle Freiraum-Ausgabe erfuhr, musste ich sofort an das Buch „Factfulness“ denken. Ich habe es vor Kurzem zum ersten Mal gelesen und hatte zunächst echte Schwierigkeiten, Roslings Ansatz anzunehmen: Wie bitte, die Welt ist gar nicht so schlecht? Das war ein Gedanke, an den ich mich erstmal gewöhnen musste.
Hans Rosling verdichtet in seinem Buch überraschende Fakten und erhellende Diagramme, aber auch eindrückliche Anekdoten aus seiner Tätigkeit rund um den Globus. „Factfulness“ ist eine handfeste Gebrauchsanleitung, um die Welt schärfer zu sehen. Auf diese Weise versucht Prof. Rosling „to change people’s ways of thinking, calm their irrational fears, and redirect their energies into constructive activities“. Und bei mir hat er das geschafft. Daher möchte ich an dieser Stelle eine Lese-Empfehlung aussprechen: „Factfulness“ ist eine lohnende Lektüre. Denn dieses Buch tut etwas, was ich noch bei keinem anderen erlebt habe: Es gibt Hoffnung.
Patricia Stainer promoviert zum Thema “Marketing für Musiktheater - von der Barriere zur Brücke für junge Nicht-Besucher?“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit April 2021 ist sie in der Promotionsförderung der FNF.
freiraum #72
Artikelbilder: NASA, Ryoji Iwata