Die Globalisierung sei nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen, sondern auch ein sozialer Vernetzungsprozess, der uns alle jeden Tag mehr zu Mitgliedern einer Weltgesellschaft macht. Warum der Kern der "Westerwelle-Doktrin" auch heute Bedeutung habe, erläutert Erfan Kasraie in einem Artikel aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum".

„Die Globalisierung ist eine Globalisierung der Werte. Der Irrglaube, dass es Regionen oder Kulturen gäbe, wo Menschen keine Demokratie ersehnen, landet gerade auf dem Müllhaufen der Geschichte.“

[Dr. Guido Westerwelle, an der Universität Heidelberg am 2. Februar 2011]

Als ich nach Deutschland zog, konnte ich kaum den Unterschied zwischen den deutschen politischen Parteien ertasten. Ich besaß zwar viele Bücher und Dokumente über die Geschichte des Landes während des und nach dem Nationalsozialismus, trotzdem hatte ich keinen glaubwürdigen Maßstab, um mit dessen Hilfe meine politische Ausrichtung in Deutschland zu erkunden. In dieser Zeit stieß ich auf die Rede von Dr. Guido Westerwelle vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (2010) und fand seine Rede wie ein Manifest für eine liberale Globalisierung und konnte meine politische Ausrichtung in Deutschland überdenken. 

Wir Wissenschaftsphilosophen sind pingelige Menschen und die Genauigkeit der Definitionen und der Vorgehensweisen ist der wichtigste Teil unserer Arbeit. Den Terminus „Globalisierung der Werte“ aus der Sicht von Westerwelle fand ich nicht nur inspirierend, sondern auch wohldefiniert. Er machte in dieser Rede mit konkreten Beispielen aus der Realität unmissverständlich klar, was genau mit dem Begriff „Globalisierung der Werte“ gemeint ist. Nach Westerwelle ist die Welt heute „an einer ähnlichen Schwelle angekommen wie beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft“. Das Internet setzt laut Westerwelle in unserem elektronischen Zeitalter enorme positive Kräfte frei. Meinungen können nicht über das Staatsfernsehen allein kontrolliert werden und wir erleben eine neue Realität der Gedankenfreiheit. „Wir erleben dadurch eine Globalisierung nicht nur der Lebensstile, sondern auch der Werte.“

Der Schlüsselbegriff im Kontext der Rede von Westerwelle ist meines Erachtens „Die Universalität der Menschenrechte“. Westerwelle ist der Auffassung, dass die Universalität der Menschenrechte indiskutabel ist und außer Frage steht. Der Einsatz für die Menschenrechte ist laut ihm eine Konsequenz, die die Deutschen aus dem dunkelsten Kapitel der Geschichte ziehen. Er spricht von den universell anerkannten Werten – wie dem Respekt vor der Würde des Menschen – und zitiert von Literaturnobelpreisträger 1972, Heinrich Böll, dass es eine Pflicht zur Einmischung in die Angelegenheit der Menschenrechte gibt.

Weltweite Realität - Werteorientierung der verantwortungsvollen Außenpolitik

„Wir verpflichten uns zum Schutz der Grundrechte innerhalb unseres Landes. Wir streiten für die Einhaltung von Menschenrechten außerhalb unseres Landes.“

Durch dieses Zitat von Westerwelle wird dieser Aspekt noch deutlicher hervorgehoben. Es gibt laut ihm kaum einen deutschen Politikbereich, der nicht durch die Globalisierung beeinflusst ist. Internationale Themen wirken in die nationale Politik, nationale Entscheidungen haben umgekehrt Einfluss darauf, ob die Deutschen die globalen Ziele erreichen, beispielsweise in der Energie- oder Klimapolitik.

Die Globalisierung ist nach Westerwelle ein sozialer Vernetzungsprozess, der uns alle jeden Tag mehr zu Mitgliedern einer Weltgesellschaft macht. Er erläutert weiter, manche hätten die Globalisierung umgetauft in Globalismus, als sei die Globalisierung eine ökonomische Ideologie. Westerwelle ist der Meinung, in Wahrheit sei die Globalisierung gesellschaftliche Realität – ihre Realität, zum Beispiel Ägyptens Realität, und benutzt den Terminus „weltweite Realität“. Er sagt, wir stünden auf der Seite jener, die Versammlungs- und Pressefreiheit einfordern, die faire Wahlen verlangen, die Meinungsfreiheit und politische Beteiligung wollen. Es sind universelle Werte! Er fügt hinzu: „Das gilt in Europa und das gilt weltweit. Unsere Politik und unser Denken müssen mit der Globalisierung Schritt halten. Wir wollen Globalisierung gestalten. Außen- und Innenpolitik sind deshalb immer stärker verzahnt.“

Die Globalisierung sei nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen und sie bringe nicht nur wirtschaftlich Gutes. Das ist genau, was Westerwelle mit dem Begriff „Die Globalisierung der Werte“ gemeint hat. Er nennt als Beispiel Ägypten im Jahr 2011 und sagt, die Globalisierung der Werte sei eine Chance für die Rechtsstaatlichkeit dort, wo die Menschen noch auf sie warten. Die Globalisierung erschwert laut Westerwelle Zensur, Abschottung und Unterdrückung. In seiner Rede erwähnt er ein anderes Beispiel vom Arabischen Frühling und sagt, in Tunesien sei es eine gebildete Mittelschicht gewesen, die ihren Anspruch auf Freiheit mit Nachdruck erhoben hat. Demokratie, Freiheitsrechte, Bürgerrechte, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, das seien genau die Rechte, die in Teheran und in Tunis von den Bürgerinnen und Bürgern auf der Straße verlangt und eingeklagt werden. Er deutet mit klaren Worten an, diejenigen, die diese Rechte wollen, hätten weltweit unsere Solidarität und unsere politische Unterstützung. Wir seien eine Wertegemeinschaft, und diese Werte wollten wir auch verbreiten. In Bezug auf die Iran-Politik sagte er einmal, Deutschland sollte den „verfolgten Menschenrechtsverteidigern, Journalisten, Frauen, Gewerkschaftlern, Angehörigen religiöser Minderheiten und vielen einfachen Bürgern in Iran" versichern, dass Deutschland „fest auf ihrer Seite ist". In einer Rede von 2010 bezeichnete er den Antrag des iranischen Regimes auf Beitritt zum UN-Menschenrechtsrat als „Affront gegen alle Werte, auf die der Rat sich gründet“. Sein Grundargument ist dabei immer ähnlich: Das deutsche Grundgesetz beginnt mit der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und dem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt und eine Welt der gemeinsamen Normen ist die beste Voraussetzung für Frieden, für Entwicklung, für Sicherheit und für Wohlstand. 

Seine bedeutendste Idee zum Thema „Globalisierung der Werte“ findet man meiner Auffassung nach in den folgenden Sätzen aus dem Jahr 2011: 

„Die Globalisierung ist eine Globalisierung der Werte. Der Irrglaube, dass es Regionen oder Kulturen gäbe, wo Menschen keine Demokratie ersehnen, landet gerade auf dem Müllhaufen der Geschichte.“

Er lehnt mit dieser Deutung den Kern des sogenannten „umgekehrten Orientalismus“, der aus dem herrschenden Diskurs der europäischen Linken stammt, ab. Das Konzept „Reverse-Orientalism” ist bestimmt ein umstrittener Begriff und ein viel diskutiertes Thema. Sadik Dschalal al-Asm (der syrische Philosoph, gestorben: 2016, Berlin) nannte einmal den französischen Philosoph François Burgat einen „Reverse-Orientalist”. Was jedoch damit gemeint ist, erläutert ein Artikel mit dem Titel „Die europäische Linke liebt Abu Mussab al-Sarkawi und hasst Taha Hussein” von Hossein Alwedaei, jemenitischer Jurist. Er schreibt, die europäische Linke dächten, dass die echte Stimme des Nahen Ostens die Stimme der Muslimbrüder, Khomeinis und der Salafisten sei. Aus der Sicht dieses Autors bezeichnet die europäische Linke die Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte, Frauenrechte usw. als die Werte der westlichen Kolonisation und ist der Auffassung, dass diese Begriffe mit der Wirklichkeit des Nahen Ostens nicht im Einklang stehen können. Im umgekehrten Orientalismus gibt es einen typischen herabwürdigenden und erniedrigenden Blick auf die Bevölkerung des Nahen Ostens. Ein nahöstliches Land mit Säkularismus, Demokratie oder Gedankenfreiheit sei kein echter Naher Osten. Diese Form des umgekehrten Orientalismus betrachtet die Bevölkerung des Nahen Ostens als rückständige, primitive Menschen, die von den Werten der modernen Welt, von den menschenrechtlichen Normen, Werten und daraus resultierenden Verhaltensweisen nichts verstehen. Unterdrückung und Folter, Verhaftung und Ermordung der Eliten seien die wirklich herrschenden Werte dieser Länder. Genau aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass die Westerwelle-Doktrin nicht nur als eine auf dem Papier stehende Idee, sondern als Grundstein der verantwortungsvollen praktischen Außenpolitik Deutschlands berücksichtigt und verehrt werden sollte. Die zunehmenden Konflikte in der heutigen Welt zeigen uns, dass die Welt mehr Menschen wie ihn braucht. Ich glaube, die Geschichte wird zeigen, dass Westerwelle Recht hatte: Eine Welt der gemeinsamen Normen ist die Voraussetzung für Frieden, für Entwicklung, für Sicherheit und für Wohlstand.


Der Autor Erfan Kasraie promoviert zum Thema „mathematische Argumentationsmethode in der modernen Kosmologie“ in der Lichtenberg-Gruppe in Geschichte und Philosophie an der Universität Bonn und ist seit April 2021 in der Promotionsförderung der FNF.

freiraum #72

Artikelbild: Janwikifoto