Der Krieg gegen die Ukraine hat Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und unzählige Familien auseinandergerissen. In diesem Text erzählen drei von ihnen über den Kampf ums Überleben, die Flucht und Widerstand gegen Gewalt und Propaganda. Von Fabian Alexander Eiden
freiraum #74
Tschernihiw ist einer der ersten Orte in der Ukraine, den der Krieg in den frühen Morgenstunden des 24. Februar heimsucht. Die Stadt, die ihre erhabene Geschichte noch aus der sagenumwobenen Zeit der Kiewer Rus herleitet, liegt heute nicht einmal 100 Kilometer südlich der belarussischen Grenze, von wo aus die russische Armee zu ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung aufbricht.
Elena wird durch die Sirenen des Fliegeralarms aus dem Schlaf gerissen; dasselbe kreischende Geräusch, das ihr in den kommenden drei Wochen jeden ruhigen Schlaf verwehren wird. Wie fast alle Ukrainer zerrt der Krieg Elena jäh aus ihrem Alltag. Sie hat keine Vorräte angelegt, weiß nur: Sie muss ihre Kinder und sich in Sicherheit bringen, in so viel Sicherheit jedenfalls, wie es der Keller ihres Hauses gegen die russischen Bomben, die ganze Straßenzüge ihrer Nachbarschaft dem Erdboden gleichmachen, zu bieten vermag. Angst schnürt ihr die Brust zu, als sie in Eile die nötigsten Dinge – Lebensmittel, Kerzen – zusammensucht, während draußen die Explosionen stetig näherkommen und die Fenster ihrer Wohnung immer heftiger erschüttern.
Uschgorod liegt im westlichsten Ausläufer der Ukraine, direkt an der slowakischen Grenze, und somit weitab der russischen Marschruten. Aber auch hierhin verirren sich russische Granaten und die ständigen Fliegeralarme machen ein friedliches Leben unmöglich. Als der jüngste Sohn von Iryna, die in Uschgorod als Fernsehjournalistin arbeitet, auch eine halbe Stunde nach Ende der Sirenen nicht aufhört zu zittern, weiß sie, dass ihre Heimat nicht länger sicher für ihre Kinder ist. Zugleich bedeutet dies die Trennung von ihrem Mann, Mykhailo. Mit Beginn des russischen Angriffs meldet er sich freiwillig für die ukrainische Territorialverteidigung, auch wenn der Bauingenieur keine militärische Erfahrung hat. Auf unbestimmte Zeit wird die Familie von Irynas und Mykhailos voneinander getrennt.
Im 1700 Kilometer entfernten Cambridge verfolgt Andrii kummervoll die Nachrichten aus seiner Heimat, schon lange bevor die Sonne über dem pittoresken ostenglischen Universitätsstädtchen aufgeht. Während die meisten Einwohner sich anschicken, zwischen Museen, Forschungseinrichtungen und Colleges ihrem Alltag nachzugehen, beginnt Andrii gemeinsam mit anderen ukrainischen Studierenden, Protestmärsche zu organisieren und Schreiben an britische Parlamentarier zu verfassen. Die Resonanz ist groß und noch am Abend versammeln sich über 100 Demonstranten vor der altehrwürdigen Kapelle des King’s College. Der ukrainische Widerstand ist militärisch, gewiss, aber zu ihm zählen auch die Millionen Menschen der weltweiten ukrainischen Diaspora, die wie Andrii ihre bürgerlichen Freiheiten nutzen, um zivilen Widerstand und Protest zu mobilisieren. Trotzdem ist Cambridge für Andrii nur ein Nebenschauplatz, denn seine Eltern leben noch im ukrainischen Lwiw. Sein 71-jähriger Vater weigert sich lange, die Ukraine zu verlassen. Und Andriis Mutter will Lwiw nicht ohne ihren Mann hinter sich lassen.
In Tschernihiw durchlebt Elena drei Wochen lang den Schrecken des russischen Angriffskriegs: In ihrem Keller ausharrend, wird sie Zeugin, wie die Raketen, die Tag um Tag auf ihre Nachbarschaft niedergehen, eine Schneise der Verheerung hinterlassen. Wenige Tage nach Beginn des Angriffs bricht die Versorgung der Stadt mit Wasser und Lebensmitteln zusammen. Elena ist gezwungen, den Keller unter Lebensgefahr zu verlassen, um Vorräte für ihre Kinder und sich zu beschaffen.
Die Überlebenden teilen auf den zerbombten Straßen Informationen, wo noch Lebensmittel erhältlich sind und an welchen Ecken Hinterhalte lauern: Denn wer vor Geschäften ansteht, muss jederzeit damit rechnen, von marodierenden russischen Einheiten unter Beschuss zu geraten. Als eine Granate in einem Haus ihrer Straße einschlägt, nimmt Elena mit einigen Nachbarn den Schaden in Augenschein; „wie Mehl“ hat sich Staub zentimeterhoch auf die trümmervolle Ruine gelegt. So stehen Alte, Frauen und Kinder – alle ganz offenkundig Zivilisten – als Überlebenden einer ehemals lebhaften Nachbarschaft beieinander, als plötzlich russische Soldaten das Feuer eröffnen. Während rings um sie Kugeln einschlagen, rennt Elena um ihr Leben. Ohne Wissen, wer von den Anderen den Hinterhalt überlebt hat, erreicht sie den Keller ihres Hauses.
Eine Flucht aus Tschernihiw ist nicht weniger gefährlich als das Ausharren, aber das unablässige Bombardement und die Nahrungsmittelknappheit bewegen Elena zuletzt doch dazu, die Flucht zu wagen. Gleichwohl bedeutet dies, dass sie ihren ältesten Sohn in einem Vorort von Tschernihiw mit Teilen ihrer Familie zurücklassen muss: Er ist älter als 18 Jahre und würde eine Ausreisegenehmigung benötigen: Die aber kann nur das ukrainische Militär ausstellen, und dessen Infrastruktur ist in Elenas Umgebung längst nicht mehr zugänglich.
Andriis Eltern, Iryna und Elena erreichen in den Wochen nach Kriegsausbruch sichere Orte, auch wenn sie hierfür Freunde und Familie in der Ukraine zurücklassen müssen. Für die Länder, die sie aufnehmen, haben sie nichts als Dankbarkeit übrig. Ihre Beteuerungen, man wolle sich einbringen, arbeiten, dem Staat nicht auf der Tasche liegen, rufen beim deutschen Gegenüber angesichts der in diesem Land seit langem geführten Debatten über Geflüchtete ein Gefühl ertappter Scham hervor: Ist das wirklich die Erwartungshaltung, die wir jahrelang an Menschen gerichtet haben, die erst kurz zuvor aus Lebensgefahr zu uns geflohen sind?
Auch wenn sie zu höflich sind, um es offen zu sagen, merkt man ihnen allen an, dass das fehlende Verständnis für den Jahrhunderte alten russischen Imperialismus, das unter Menschen aus dem Westen herrscht, sie traurig macht. Viele hier verstehen nicht, dass Russisch und Ukrainisch unterschiedliche Sprachen sind und werden so leicht zu Wasser auf den Mühlen der kulturimperialistischen Propaganda Moskaus. Noch während seines Wahlkampfes 2022 bezeichnet Emmanuel Macron Russland und die Ukraine als „Bruderstaaten“. Auch das sei ein altes, imperialistisches Mantra, das Viele im Westen unbewusst übernommen hätten: „Ich habe nie verstanden, warum nicht die Polen, die Deutschen oder Engländer meine Brudervölker sein sollen. Ich habe doch mehr Freunde in Frankreich oder den vereinigten Staaten, für mich ergibt das keinen Sinn,“ sagt Andrii.
Damit konfrontiert, dass deutsche Medien noch Tage nach dem Bekanntwerden des Massakers von Butscha von „vermeintlichen“ Gräueltaten an „vermeintlichen“ Zivilisten schrieben, weil sie zunächst keine Korrespondenten vor Ort hatten, schweigt Iryna einen Moment traurig: „Heißt das, die deutschen Medien trauen der ukrainischen Seite nicht, dass die Russen dort Menschen getötet haben?“, fragt sie. Journalistische Sorgfalt ist ein hohes Gut, natürlich, das versteht Iryna als Reporterin am besten. Aber man muss sich klar sein, dass solche Zurückhaltung für die Menschen der Ukraine, die seit 2014 mit unverhohlener russischer Aggression leben, schmerzhaft ist: „Die halbe Ukraine liegt in Asche. Natürlich ist das die Wahrheit. Mit Putin kann man keine Spiele spielen“, sagt Iryna.
Niemand könnte Andrii, Iryna oder Elena einen Vorwurf machen, würde sie der Schmerz und die Angst um ihre Lieben übermannen. Stattdessen gehen sie in den Rollen auf, die ihnen die Ereignisse zuweisen. Bemerkenswert ist, wie oft in all den Nöten, die der Krieg den Menschen aufdrängt, die Rollen von Eltern und Kind vertauscht werden: Andrii reist im März nach Nordrumänien um dort seine Eltern abzuholen, die sich schlussendlich doch für die Ausreise entschieden haben. Sie haben kaum Erfahrungen mit Auslandsreisen und sind auf Andriis Hilfe angewiesen, der sie zuletzt mit sich nach England nehmen kann. Wenn Iryna nachts aus dem Schlaf hochschreckt, sind es ihre Söhne, die sie beruhigen und sie daran erinnern, dass sie sich im sicheren Deutschland befinden und der Fliegeralarm nur ein Albtraum war. Als Elena mit ihrem sechsjährigen Sohn Potap für ein paar Minuten aus dem Keller in Tschernihiw steigt, damit er etwas Tageslicht und frische Luft bekommt, wird die Nachbarschaft wieder von Explosionen erschüttert. Im ersten Moment erinnern die Geräusche Potap an ein Feuerwerk und er beginnt zu lachen. Aber gleich darauf wird ihm der Ernst der Situation bewusst und er will seine Mutter in den schutzbietenden Keller führen – so als wäre er für einen letzten Moment hin- und hergerissen zwischen seiner ihm geraubten Kindheit und dem Erwachsenwerden, zu dem ihn der Krieg zwingt.
Ein Erwachsenwerden, ein Reifungsprozess wäre indessen auch für die Debatten, die wir in Deutschland führen, wünschenswert: Gewinnt man doch oft den Eindruck, dass wir deutsche Behaglichkeitsbedürfnisse über das Leid der ukrainischen Bevölkerung stellen. Sind wir dazu in der Lage, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und „Nie Wieder!“ vom Lifestylehashtag zum sicherheitspolitischen Prinzip zu machen? Die Geschichte wird Richterin darüber sein. Menschen wie Andrii, Iryna, Elena und Potap aber schulden wir Solidarität im Hier und Jetzt.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum", die in Kooperation mit der Medienakademie der Begabtenförderung der FNF entstanden ist. Mehr über die liberale Medienakademie könnt ihr über diesen LINK erfahren.