„Höher, schneller, weiter", so oder so ähnlich scheint das Motto der heutigen Gesellschaft. Auch das ständige Bestreben nach Selbstoptimierung durch Persönlichkeitsentwicklung oder ähnliches kann als Symptom der fortwährenden Leistungsgesellschaft gewertet werden. Doch woher kommt dieser ständige Drang zur Optimierung? Und wie könnte „Existential Positivity" hier Abhilfe leisten? Von Anna Bella Schilling

freiraum #76

Die meisten Instagram- und YouTube-Nutzer kennen die endlos scheinenden Reel- und Videovorschläge für maximal produktive Tagesabläufe, grüne Smoothie-Rezepte und Expeditionen auf immer höhere 4000-er Gipfel. Aber auch unabhängig von der Social Media Welt der 2000er-Kinder sind Selbsthilfebücher, Yogakurse und Entschlackungsdiäten schon lange Bestandteil eines gesunden und ausgeglichenen Lebensstils. Daran ist auch grundsätzlich nichts auszusetzen. Bergsteigen bringt einen schließlich an die frische Luft und von einem Grünkohlsmoothie hat auch noch nie jemand Diabetes oder einen Herzinfarkt bekommen. Schlussendlich sind diese Gewohnheiten aber alle Anzeichen eines schon länger währenden Phänomens: der Drang nach einem besseren, gesünderen, glücklicheren und im Endeffekt optimierten Ichs.

Das Aufkommen eines Selbstoptimierungsdrangs in der westlichen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten kann verschiedene Gründe haben. Zum einen ist mit dem steigenden Wohlstand und den verbesserten Lebensumständen gegen Ende des letzten Jahrhunderts der Fokus von der Sorge ums Überleben und Wiederaufbauen zur Selbstverwirklichung und einem erfüllten Leben gewandert. Gerade die jüngere Generation setzt mittlerweile größeren Mehrwert auf mehr Freizeit und eine gute Work-Life-Balance. So bewegt sie sich langsam weg von der Leistungsgesellschaft, die nur noch nach einer steilen Karriere und astronomischen Gehältern strebte.

Andererseits kann der Wunsch einer andauernden Verbesserung der eigenen Persönlichkeit aber auch gerade Ausdruck einer immer noch fortwährenden Leistungsgesellschaft sein. Instagram und YouTube sind überschwemmt von Videos von einem optimierten Tagesrhythmus. Sie dokumentieren minutiös, wie ein produktiver und gesunder Tag um 5.00 Uhr mit einem Workout beginnt und abends um 22.00 Uhr mit einer halbstündigen Meditation und einem sofortigen Tiefschlaf endet. Wenn die Schlaf-App einem dann morgens nur 4 Stunden Schlaf anzeigt und die Sportuhr am Ende des Tages bei 100 Schritten stehen bleibt, fühlt man sich unzufrieden und gestresst.

Andere Instagram-Accounts zeigen aufwendig kuratierte Posts über absolvierte Ultramarathonläufe und stundenlange hochkonzentrierte Lerneinheiten in der Universitätsbibliothek. Auch sollte man Yoga machen und meditieren, alles positiv sehen und alle zwei Jahre drei Monate auf Bali verbringen, sonst erlebt man ja nichts. Dabei vergisst man schnell, dass wohl kaum jemand jeden Abend um 22.00 Uhr die Lichter ausmacht und auch der beste Ultramarathonläufer die Hälfte seiner Zeit bei der Physiotherapie verbringt. Auch kann sich nicht jeder den Flug nach Bali leisten und 5 Minuten zu meditieren ist manchmal fast anstrengender als ein zweistündiges Zoom-Meeting. Trotzdem vergleicht man sich unweigerlich mit Social-Media-Persönlichkeiten, die man gar nicht kennt und denkt sich, dass man noch besser, noch effektiver und noch „optimaler“ leben könnte.

Wer zwanghaft versucht immer schöner, fitter und glücklicher zu sein, setzt sich dadurch zusätzlich unter Druck.

Dies soll natürlich nicht heißen, dass die zunehmende Auseinandersetzung mit Körper und Psyche nicht auch durchweg sehr positive Seiten hat. Es ist mittlerweile nicht mehr abwegig sich psychologische Hilfe zu holen, wenn einem die Schule, Arbeit oder das Privatleben über den Kopf wächst. Auch schadet natürlich niemandem der Besuch im Fitnessstudio oder ein Lauf im Wald. Und wen eine Meditation nach Sekunden in den Schlaf wiegt, ist zu beneiden. Problematisch wird dies alles nur, wenn der Wunsch nach einem ausgeglichenen und gesünderen Leben von Ehrgeiz getrieben wird. Wer zwanghaft versucht immer schöner, fitter und glücklicher zu sein, setzt sich dadurch zusätzlich unter Druck. Dem Schlankheitswahn der letzten Jahrzehnte hat bereits erfolgreich die „Body Positivity“-Bewegung entgegengewirkt. Die Philosophin Ariadne von Schirach spricht sich deswegen für eine „Existential Positivity“ aus, um dem Selbstoptimierungszwang entgegenzuwirken. Wenn man nach einem stressigen Tag mal nicht einschlafen kann, ist das nicht schlimm. Wenn man nicht auf jeden Gipfel stürmen will, auch nicht. Ein immer „optimaleres“ Leben zu führen, ist schon grammatikalisch nicht möglich.

Anna Bella Schilling studierte an der Universität Konstanz Rechtswissenschaften und ist Altstipendiatin der FNF.


Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des VSA-Mitgliedermagazins "freiraum", die in Kooperation mit der Medienakademie der Begabtenförderung der FNF entstanden ist. Mehr über die liberale Medienakademie könnt ihr über diesen LINK erfahren.