Im Vorwort zur neuen Freiraum-Reihe "Zukunftsforum Freiheit" schreibt der Philosoph und ehemalige Generalsekretär der International Federation of Liberal Youth Sven Gerst über die schöpferische Kraft der konzeptuellen Beerdigung.

In meinen verschiedenen Rollen innerhalb des politisch organisierten Liberalismus habe ich nahezu alle Konjunkturen miterlebt: Wahlabende voller Euphorie, wenn liberale Parteien in Parlamente einzogen oder Regierungen bildeten; bittere Momente des Scheiterns, wenn Bewegungen implodierten, Wahlniederlagen uns bis ins Mark trafen oder politischer Wandel plötzlich Repression bedeutete. Mit der Zeit entsteht der Eindruck, alles folge einem ewigen Auf und Ab—mal gewinnt man, mal verliert man. Und man macht halt weiter, weil der nächste Zyklus kommt gewiss.

Doch 2025 fühlt sich anders an.

Selten habe ich eine Partei so erschöpft, inhaltlich und personell ausgeblutet, so ratlos erlebt wie die Freien Demokraten nach der Bundestagswahl im Februar. Dabei ist dieses Ausscheiden aus dem Bundestag ist kein Novum. Dieses Los traf uns schon 2013. Damals jedoch gab es das Personal und die Energie für den Neuanfang. Diesmal fehlen uns nicht nur Personal und Energie– diesmal fehlt die Idee was Neuanfang überhaupt bedeutet.

Wo früher sofort die Debatte um Ursachen und Auswege begann, verstrichen diesmal Wochen ohne substanziellen Beitrag. Das konnte ich dann doch nicht länger mitansehen und verfasste deshalb selbst einen Debattenartikel—bewusst und ausdrücklick mit dem Blick von “außen.” Es stellte sich heraus, dass ich dabei beinahe allein auf weiter Flur stand. Die restlichen Wahlanalysen und Positionpapiere kamen von Parteimigliedern mit eigener Agenda. Das ist kein gutes Zeichen. Früher glaubte wenigstens noch der eine oder andere Journalist zu wissen, was die FDP nun brauche. Heute scheint es, als hätten selbst erklärte Gegner des Liberalismus die Partei bereits aufgegeben.

Vielleicht gilt es, genau das zu akzeptieren—nicht realpolitisch, sondern konzeptuell: Wir müssen die FDP erst in unseren Köpfen beerdigen, um den deutschen Liberalismus überhaupt von Grund auf neu denken zu können. Und wenn wir ehrlich sind, dann lähmen Strukturen ohne Tragkraft den Geist ohnehin mehr als das sie ihnbefreien. Genau deshalb trägt diese Einführung den Titel “Ein Vorwort zum Nachwort”. Erst indem wir die aktuelle Form der FDP metaphorisch und gedanklich zu Grabe tragen, entsteht der Freiraum für neue Gedankengänge. Jedem Ende wohnt bekanntlich ein Zauber inne.

Diese Annahme ist im Übirgen resignativ, sondern produktiv. Solange wir hoffen, mit besseren Kampagnen oder frischem Personal lasse sich alles reparieren, denken wir defensiv. Erst wer den Abschied wagt, öffnet einen Raum für Vorstellungskraft. Die schöpferische Kraft liegt im Loslassen—in der Einsicht, dass ein politischer Körper seine Funktion verloren hat und wir daraus Konsequenzen ziehen müssen. Die FDP in ihrer jetzigen Gestalt des deutschen Liberalismus hat sich überlebt. Und Strukturen, die sich überlebt haben, blockieren nicht nur Lösungen, sie verengen bereits die Fragen. Politischer Liberalismus kann nur überleben, wenn er wieder von null denkt – strukturell, kulturell, sprachlich. Was wäre, wenn wir heute eine liberale Kraft auf der grünen Wiese entwickeln müssten? 

Die folgenden Beiträge sind der Beginn einer Serie. Sie greifen dieses Bild auf und entwerfen frische Denkansätze für neue Strukturen: Alternative Modelle politischer Arbeit und Beteiligung. Ich hoffe, sie bilden einen Auftakt und stoßen die nötigen Debatten in den passenden Foren an. Noch bedeutsamer als ihr jeweiliger Inhalt ist jedoch die Erkenntnis, dass wir die Deutung des Liberalismus nicht länger allein Parteigremien überlassen dürfen.

Denn auch wenn es so klingen mag: Das hier ist kein Nachruf. Es ist eine konzeptuelle Befreiung – und damit irgendwie auch wieder ein Vorwort.


Mehr aus dieser Reihe:

Zeit für Vertrauen – Warum eine liberale Partei Open Primaries wagen sollte (Henri Kirner)

Freiheit braucht Fehlbarkeit: Eine Fehler- und Lernkultur in der FDP beleben (Alice Katherine Schmidt)