Prof. Dr. Werner Bruns

Die digitale Transformation stellt unsere freiheitliche Ordnung vor eine kulturelle, soziale und ökonomische Bewährungsprobe. Was sich gegenwärtig vollzieht, ist nicht bloß ein technologischer Umbruch, sondern ein Zivilisationswandel. Die Bedingungen, unter denen Gesellschaft, Öffentlichkeit und Demokratie funktionieren, verschieben sich grundlegend. Inmitten der algorithmischen Durchdringung aller Lebensbereiche formt sich eine neue Gesellschaft, fluider, vernetzter, entgrenzt, die sich zunehmend von den festen Strukturen und Gewissheiten des Industriezeitalters verabschiedet. Die alte Bürgergesellschaft, gegründet auf physische Öffentlichkeit, stabile Institutionen und analoge Interaktion, bröckelt. Was folgt, ist offen. Die entscheidende Frage lautet daher nicht, ob wir in einer digitalen Gesellschaft leben wollen, sondern: Welche digitale Gesellschaft wollen wir?

Der Liberalismus steht vor der Herausforderung, auf diese Frage eine zeitgemäße, tragfähige Antwort zu geben. Eine Antwort, die nicht rückwärtsgewandt ist, sondern den Möglichkeitsraum der Moderne erkennt. Die liberale Idee muss sich neu erfinden, nicht im Sinne eines radikalen Bruchs, sondern als Weiterentwicklung ihrer Grundprinzipien: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es ist kein Zufall, dass Werner Maihofer, einer der Vordenker des deutschen Liberalismus, genau diese Formel als zeitlosen Kern liberaler Politik verstand. Sie ist keine nostalgische Sentenz, sondern ein zukunftsoffenes Programm. Im Zeitalter des Digitalen bedeutet sie: Freiheit zur Kritik, Gleichheit im Zugang zu digitalen Chancen, Brüderlichkeit als Verantwortung in einer vernetzten Welt.

Doch diese Prinzipien sind nicht selbstverständlich. Der öffentliche Diskurs verflacht zur Pose, die politische Urteilskraft droht im Strudel von Empörung, Erregung und moralischer Selbstvergewisserung zu ersticken. Was vielerorts als Liberalismus gefeiert wird, symbolisch, ästhetisiert, identitär aufgeladen, ist in Wahrheit eine Entkernung: ein Party-Liberalismus, der sich über Lifestyle und Attitüde definiert, aber keine gesellschaftliche Gestaltungsabsicht kennt. Er will gefallen, nicht verändern. Er ist mediale Selbstdarstellung, aber keine politische Haltung. Die liberale New Society setzt dem ein anderes Verständnis entgegen: Sie sucht Substanz statt Oberfläche, Kritik statt Konformität, Verantwortung statt Selbstbespiegelung.

Für die FDP, die sich selbst in der Tradition eines aufgeklärten und modernen Liberalismus versteht, bietet sich damit die historische Chance zur Neupositionierung. In einer Zeit, in der der Liberalismus von links als kalter Marktglaube verkannt und von rechts als haltlos verspottet wird, muss er sich auf seine gestaltende Kraft besinnen. Freiheit ist kein Rückzugsraum, sondern ein Auftrag zur Mitgestaltung, auch und gerade in digitalen Zeiten.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Bildung zu. Wer die digitale Welt verstehen, gestalten und kontrollieren will, muss lernen, kritisch zu denken. Nicht Technik allein, sondern Urteilskraft ist das Ziel. Ein zeitgemäßer Liberalismus darf sich nicht auf ein funktionalistisches Verständnis von Bildung reduzieren, Stichwort „Fachkräfteliberalismus“. Bildung muss Freiheit ermöglichen: zur Kritik, zur Persönlichkeit, zur Mündigkeit. Wer nicht nur Nutzer, sondern Bürger sein will, muss lernen, digitale Prozesse zu hinterfragen, nicht nur zu bedienen.

Technologie ist kein Schicksal, sondern gestaltbar. Der Algorithmus ist kein Naturgesetz, sondern ein von Menschen geschriebenes Regelwerk und damit politisch verantwortbar. Es gilt, ein neues Gleichgewicht zwischen Markt und Öffentlichkeit zu definieren. Weder zentrale Steuerung noch blinder Technokratismus sind tragfähige Antworten. Der liberale Staat muss die digitale Infrastruktur nicht selbst bauen, aber er muss garantieren, dass ihre Grundlagen transparent, überprüfbar und kontrollierbar bleiben. Wo algorithmische Entscheidungen wirksam werden, muss demokratische Kontrolle greifen. Was programmiert wird, darf kein Tabu sein.

Zivilgesellschaftliche Strukturen brauchen keine Fürsorge, sondern Freiheit. Wer bürgerschaftliches Engagement fördern will, sollte auf Vertrauen setzen, nicht auf pädagogische Betreuung durch Fördermittel und Projektlogik. Eine liberale Gesellschaft lebt von Eigenverantwortung, nicht von Subvention. Gesellschaftliches Engagement entfaltet sich dort, wo Menschen selbst gestalten dürfen, nicht dort, wo sie nach institutionellen Vorgaben handeln müssen.

Auch das Verständnis von Arbeit wandelt sich. „New Work“ darf nicht zur neoliberalen Selbstverwirklichungsformel verkommen, sondern muss eingebettet werden in ein Konzept ökonomischer Freiheit mit sozialer Verantwortung. Der Mensch ist mehr als Nutzer oder Datenpunkt. Er bleibt Subjekt, auch in dem digitalen Kapitalismus. Gerade weil die Wirtschaft digitaler, globaler, automatisierter wird, braucht es faire Voraussetzungen, Chancengleichheit und das Bekenntnis zu einem Menschenbild, das Würde nicht an Verwertbarkeit koppelt.

Freiheit braucht Kritik. Nicht als akademische Geste, sondern als politisches Prinzip. Wissenschaft ist organisierte Skepsis und gerade deshalb ein Modell für eine lernende Gesellschaft. Offenheit, Nachprüfbarkeit, Gemeinwohlorientierung: Das sind nicht bloß Tugenden des akademischen Betriebs, sondern Voraussetzungen einer freien Demokratie. Eine moderne liberale Gesellschaft denkt diesen Wissenschaftsethos weiter, in Medien, Verwaltung, Justiz. Prüfen statt glauben. Argumentieren statt behaupten. Lernen statt moralisieren.

Universitäten müssen Orte des freien Denkens bleiben, auch oder gerade in digitalen Zeiten. Der Muff des Industriezeitalters muss weichen. Frischer Wind tut not: durch verpflichtende Auslandssemester, freiheitliche Kolloquien, digitale Reformoffensiven. Bildung darf kein geschlossener Raum sein, sondern muss zum Experimentierfeld einer offenen Gesellschaft werden.

Die liberale New Society ist kein abgeschlossenes Modell. Sie ist ein Denkrahmen: offen, lernfähig, revisionsbereit. Ihre Stärke liegt nicht in der Behauptung, sondern in der Frage. Sie glaubt nicht an absolute Wahrheiten, sondern an den Dialog. An eine Gesellschaft, die widersprechen kann, ohne sich zu zerreißen. Die sich infrage stellt, ohne sich zu verlieren.

Der Liberalismus steht nicht vor dem Ende, sondern vor einer Bewährungsprobe. Es geht nicht darum, nostalgisch an der alten Ordnung festzuhalten, sondern mutig eine neue zu gestalten. Eine Gesellschaft, die sich ihrer digitalen Bedingungen bewusst ist, aber ihre humanistischen Prinzipien nicht preisgibt. Eine Gesellschaft, die nicht kontrolliert wird, sondern sich selbst kontrolliert. Eine Gesellschaft, die nicht verwaltet, sondern gestaltet.

Die liberale New Society ist möglich, wenn wir sie wollen. Es ist Zeit, die Frage zu stellen, die das Industriezeitalter nicht stellen musste: Nicht, ob wir digital leben wollen, sondern wie wir frei bleiben in einer digitalen Welt.


Prof. Dr. Werner Bruns ist Sozialwissenschaftler und Studiengangsleiter im Fachbereich Wirtschaft und Psychologie an Rheinischen Hochschule Köln. Er ist Mitglied des Auswahlausschusses und Vertrauensdozent der FNF, sowie Altstipendiat.