Bericht über die Auslandsakademie 2018 der Stipendiaten nach Marokko. Von Sandra Rohfleisch

Stipendiatenleben: Auslandsakademie 2018

 


Der Reisebus schiebt sich durch den dichten Verkehr. Das Hupen der Autofahrer und das Knattern der Mofas vermischt sich mit den Bordsteingesprächen der Menschen und den gelegentlichen Schreien der Esel, die geduldig vor den beladenen Holzkarren warten. In Marokkos Hauptstadt pulsiert das Leben. Und mitten in diesem geschäftigen Treiben beginnt unsere Auslandsakademie.

Eine Reise, die uns von der Regierungsstadt Rabat über die Wirtschaftsmetropole Casablanca, durch die gewundenen Bergstraßen des Atlasgebirges nach Ouarzazate und schlussendlich in die rote Stadt, Marrakesch, führen wird. Eine Reise, die uns Einblicke in ein Land geben wird, das den Aufbruch in die Moderne unbedingt will und zugleich an seinen Traditionen festzuhalten versucht. Ein Land, das sich eine Vorreiterrolle in Afrika sichern möchte und sich durch seine Nähe zu Europa eine Schlüsselrolle im europäisch-afrikanischen Dialog zuschreibt. Ein Land, in dem politische und soziale Disparitäten sich bei näherer Betrachtung immer deutlicher manifestieren, das durch seine drei roten Linien »König – Religion – Vaterland« Kritik in weiten Teilen aber unmöglich macht. Doch ebenso ein Land, das von seinen Bürgern geliebt und verteidigt wird. Wo man trotz unüberwindbar anmutender Hürden nicht in Resignation zu verfallen scheint, sondern entschlossen ist, das Land voranzubringen und Reformen mitzugestalten. Menschenrechte, Frauenrechte, gesellschaftliche Emanzipation, politische Teilhabe – diese Schlagworte begleiten uns die gesamte Woche.

Viel zu schnell wird einem bewusst, dass Menschenrechte in Marokko eben keine Selbstverständlichkeit sind, von Frauenrechten ganz zu schweigen. Während Jamal Chadi, ein marokkanischer Menschenrechtsaktivist der ersten Stunde und Mitbegründer des Centre des Droits des Gens (CDG), von seinem Einsatz für eine Verbesserung der prekären Haftbedingungen in marokkanischen Staatsgefängnissen berichtet, herrscht konzentrierte Stille im Raum. Bis Ende der 90er Jahre waren das Verschwindenlassen sowie menschenunwürdige Haftbedingungen und Folter keine Ausnahme. Seine Berichte sind detailliert und eindrücklich, die Leidenschaft, mit der er sich für die Menschenrechte in seinem Land einsetzt, unverkennbar. Für ihn sei der CDG ein Motor der Freiheit. Die Stärkung der Menschenrechte betrachtet er als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in den Schulen anfängt, die Eltern und Verantwortliche miteinbezieht und vor allem auch die Verwaltung durchdringen muss. Dank der Arbeit des CDG in Kooperation mit dem Projektbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung konnte nach Jahren ein Gesetz verabschiedet werden, das Folter, Isolierung und psychische Gewalt in Gefängnissen verbietet. Im Laufe des letzten Sommers hat der CDG in diversen Justizvollzugsanstalten landesweit sogenannte Menschenrechtsclub eingerichtet, mit dem Ziel, den Insassen Kenntnisse über Menschenrechte zu vermitteln und so Multiplikatoren zu schaffen, die jene Werte auch an ihre Mitgefangenen weitergeben. Die Resonanz ist bislang sehr positiv, denn viele Häftlinge sind sich über ihre Rechte oft nicht im Klaren. Sowohl bei Insassen, als auch bei den Justizvollzugsbeamten schwingt die Hoffnung mit, dass sich durch die Aufklärung langfristig die Gewalt sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gefängnisse reduziert. Es geht um ein offenes Miteinander und den respektvollen Umgang der Gefangenen untereinander, als auch den zwischen ihnen und den Wärtern, sowie mit ihrer Familie.

Seit König Mohammed VI. an der Macht ist, hat das Land einen Weg der Reformen beschritten, doch die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen politischem Konformitätsdruck und regimekritischer Haltung. Obwohl Marokko offiziell eine konstitutionelle Monarchie ist, hält der König nach wie vor weitgehende Prärogative. Er nominiert den Regierungschef, der letztendlich Gesetzesvorhaben einbringt, präsidiert über die Judikative, verfügt über die Entscheidungsgewalt in sämtlichen Sicherheitsfragen und gilt zugleich als religiöser Führer der marokkanischen Sunniten, die rund 99% der Bevölkerung ausmachen. Eine offene Kritik des Königshauses oder das Infragestellen des Islams als Staatsreligion wären in Marokko undenkbar. »Gott, Vaterland, König« – so der Wahlspruch des Landes und so die drei unantastbaren roten Linien.

Mohammed VI. weiß, dass er der Bevölkerung Zugeständnisse machen muss, wenn er seine Position als Monarch und religiöses Oberhaupt behalten will. 2004 setzte er eine Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen unter der Regentschaft seines Vaters ein – ein Schritt, der in einem patriarchalisch geprägten Land, wo Kritik am eigenen Vater einem Tabubruch gleicht, durchaus von Veränderungswillen zeugt. Doch es geht nur um die Aufklärung und Entschädigung der Opfer, nicht um Strafverfolgung. Eineinhalb Jahre nach Gründung der Kommission lag der Abschlussbericht vor und rund 4.000 Opfer wurden 2006 entschädigt. Juristische Konsequenzen hatten die Verantwortlichen von staatlicher Seite aus jedoch nicht zu fürchten. Ermittlungen und Gerichtsprozess mussten die Opfer selbst anstrengen. Die Kritik der Menschenrechtsaktivisten an der Straffreiheit der Verantwortlichen sowie an der Antiterror-Gesetzgebung, die weiterhin systematisch Menschenrechte verletzt, ist wohl nachvollziehbar. Sie pochten auf eine Amnestie. Der König sprach von Pardon, von »Vergeben mit einem barmherzigen Verzeihen«. Reformwille oder doch nur politisches Machtkalkül? Dank des frühzeitigen Einlenkens des Königs wäh- rend der aufkommenden politischen Unruhen 2011 haben sich die Proteste auf Marokkos Straßen in Grenzen gehalten. Durch die darauffolgende Verfassungsreform wurden den Marokkanern mehr Freiheitsrechte eingeräumt und nach Jahren der Unterdrückung Marokkos größter Bevölkerungsgruppe, den Imazighen, ihre Sprache verfassungsrechtlich anerkannt.

An der Seite der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen steht seit der Verfassungsreform der staatlich finanzierte Conseil National des Droits de l‘Homme (CNDH). Er ist aus dem seit 1990 existierenden beratenden Menschenrechtsgremium hervorgegangen und wurde nun mit operativen Aufgaben betraut. Ein Meilenstein der Arbeit des CNDH liegt in der Durchsetzung der unabhängigen Wahlbeobachtung und der gesetzlichen Festschreibung der Wahlen. In der Menschenrechtsarbeit setzt der CNDH wie der CDG vor allem auf Bildung. Auf seinen Untersuchungsbericht zum Justizvollzugssystem hin, wurden tatsächlich konkrete Maßnahmen ergriffen, um beispielsweise der akuten Überbelegung der Gefängnisse durch den Bau neuer Einrichtungen entgegenzuwirken. Erschreckend ist, das rund 40 Prozent der Insassen in Untersuchungshaft sitzen. Daher bemüht sich der CDG um eine Reform des Strafvollzugsrecht, um Alternativen zur derzeitigen Regelung der Untersuchungshaft gesetzlich zu verankern. Ein weiteres Problem besteht in der zunehmenden Kriminalisierung von Ersttätern während des Gefängnisaufenthaltes, sowie dem Personalmangel in den Haftanstalten. Auch werden Haftstrafen oft viel zu schnell von den Richtern verhängt – ein weiterer reformbedürftiger Punkt. Ebenso wie die Tatsache, dass die Todesstrafe in Marokko zwar ausgesetzt ist, aber nach wie vor für über 900 verschiedene Vergehen verhängt werden kann. 

Ein weiteres Augenmerk liegt auf der Reintegration von Islamisten. Wurde den radikalen Salafisten früher noch Raum gelassen, sieht sich Marokko heute zunehmend mit der Problematik von Rückkehrern konfrontiert. Durch Reintegrationsprogramme wird versucht, diese Menschen langsam wieder in die Gesellschaft einzugliedern, doch dafür ist es nötig, in den Gefängnissen der Entstehung interner islamistischer Machtstrukturen entgegenzuwirken. Es werden gewaltbereite und extremistische von friedlichen und nicht extremistischen Gefangene getrennt, mögliche Anführer werden isoliert und die betroffenen Gefangenen mindestens alle zwei Monate verlegt. 

Wer sich in Marokko für Menschenrechte stark macht, braucht einen langen Atem und gute Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern. Mit dem Thronwechsel änderte sich auch die Strategie der Menschenrechtsaktivisten, von Protestaktionen hinzu systematischen Bildungsinitiativen und nachhaltiger Erziehung. Dazu gehörte seit 2001 die Schulung von Gefängnispersonal, Weiterbildungen an Schulen und seit letztem Jahr nun auch die Menschenrechtsclubs in den Haftanstalten. Ahmed T. Zainabi, der für den CNDH tätig ist, betont, wie wichtig die Rolle der Zivilgesellschaft ist: »Letztendlich sind es keine juristischen Fragen, die wir beantworten müssen, sondern gesellschaftliche [...] und unsere Arbeit kann nur wirksam funktionieren, wenn wir breiten gesellschaftlichen Rückhalt haben«. Es ist noch lange nicht alles getan, aber man sei auf dem richtigen Weg. 

Einen weiten Weg hinter sich haben die Imazighen, die freien Menschen, wie sich die Berber selbst bezeichnen. Die Wurzeln der Berber reichen so weit zurück, dass es schwer ist, ihre Ursprünge genau zu datieren. Ihre eigene Zeitrechnung beginnt im 10. Jhd. v. Chr. mit der Besteigung des ägyptischen Throns durch den Berberkönig Scheschonq I. Feststeht, dass die Imazighen bereits damals die größte Bevölkerungsgruppe der Region stellten. In Marokko schätzt man ihren heutigen Anteil auf rund 60 Prozent. Genaue Zahlen sind durch die ethnische Durchmischung der Bevölkerung schwierig zu erheben. Seit Jahrhunderten haben verschiedenste Einflüsse die Kultur der Menschen in der Region beeinflusst und nachhaltig geprägt. Zugleich haben die Imazighen ihre Spuren in Europa hinterlassen. Vor allem auf der iberischen Halbinsel, derer südlicher Teil 700 Jahre lang durch die Berber beherrscht wurde. Die Mauern der castillos musulmanes in Andalusien erzählen noch heute von dieser Zeit. Und noch etwas verdankt Europa den Imazighen: die Landwirtschaft. Bis auf das nomadisch lebende Volk der Touareg sind und waren die Berbervölker sesshaft und gehörten zu den ersten, die Landwirtschaft betrieben haben. Mit Beginn der Islamisierung im 7. Jhd. n. Chr. begann ein tiefgreifender gesell- schaftlicher Transformationsprozess. So wandelten sich die ursprünglich matriarchalisch geprägten Strukturen hin zu der heutigen patriarchalisch dominierten Gesellschaft. Auch ihre Sprache ging durch die arabisch-islamische Expansion zunehmend verloren. Mit der Arabisierung des Landes in der Zeit nach dem französischen Protektorat und der Verbreitung eines strikteren Islam war ihre Kultur nahezu vollständig verdrängt worden. Dabei haben die Imazighen durch ihren Widerstand gegen die französischen und spanischen Besatzungsmächte maßgeblich zu Marokkos Unabhängigkeit 1956 beigetragen.

Im Gespräch mit Rachid Raha, Gründer und Präsident der Association Amazigh, die sich für die Anerkennung und Stärkung der Berberkultur und ihrer Rechte stark macht, wird deutlich, dass es den Imazighen nicht um ihre gesellschaftliche Stellung als Bevölkerungsgruppe geht, sondern um ihr kulturelles Erbe. Die Imazighen stellen die Mehrheit der marokkanischen Bevölkerung und sind in jeglichen Belangen in die Gesellschaft und das öffentliche Leben integriert. Der König und seine Familie sind selbst berberischer Abstammung, ebenso wie viele hohe Funktionäre, Militärs, Unternehmer, Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens. Erst durch die Verfassungsreform wurde der besondere Stellenwert ihrer Identität hervorgehoben, ihre Sprache anerkannt und verschriftlicht. Seitdem hält sie Einzug in das marokkanische Bildungswesen und ist vermehrt in der Öffentlichkeit wahrnehmbar. Ein besonderes Anliegen Rachid Rahas liegt in der Förderung der Sprache, der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie einer weltweiten Sensibilisierung für die kulturelle Identität der Imazighen. Ihre Sprache, ihre Erziehung und Kultur unterscheide sich von der arabischer Muslime – eine Tatsache, die in den Bemühungen um die erfolgreiche Integration von Einwanderern aus dem nordafrikanischen Raum kaum berücksichtigt würde und zu schwerwiegenden Identitätskonflikten führe.

Marokkos Vielfalt zeigt sich an jeder Ecke. Die kulturellen Einflüsse vermischen sich in den Sprachen, der Kleidung, auf den Tellern. Neben einer französischen Boulangerie, in der es Baguette und Pain au Chocolat zu kaufen gibt, bietet ein Straßenhändler Fladenbrottaschen mit gebratenem Gemüse und würzigem Fleisch feil. Um die Ecke steht ein Händler mit seinem vollbeladenen Handkarren und verkauft süßes marokkanisches Gebäck. In den Nebengassen finden sich kleine Kiosks, Gewürzhändler, Frauen haben die Türen zur Gasse weit geöffnet und backen frische Griesfladen und in den Restaurants duftet es nach Tajine und frischem Couscous. Und egal, wo man hingeht, eins fehlt nie: frisch aufgebrühter Minztee.

Ebenso vielfältig gestaltet sich Marokkos Landschaftsbild. Hinter den großen Städten wird es sofort ländlich. Je weiter wir uns von der Küstenregion entfernen desto karger wird die Landschaft. Sanfte grüne Hügel weichen rot getönter trockener Erde. Immer wieder erstrecken sich riesige Olivenhaine entlang der Landstraße nach Kelaa Sgharna, der Stadt der Rosen, knapp 80 Kilometer vor den Toren Marrakeschs. In dieser konservativ geprägten Stadt hat der CDG mit viel Arbeit und Durchhaltevermögen etwas vollbracht, das das Potenzial hat, zum Vorbild für andere Projekte in Marokko zu werden. Mitten in der Stadt, eingefasst von einem wunderschönen Rosengarten, steht ein weißgetünchtes Haus, das Zuflucht für Frauen in Notsituationen bietet. Die Erfahrung der Frauen, die hier Hilfe suchen, sind geprägt von alltäglicher Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung. In den traditionell geprägten ländlicheren Regionen sind Zwangsehen nach wie vor keine Seltenheit, sexuelle und häusliche Gewalt wird toleriert. Was in den eigenen vier Wänden passiert, wird aus Angst vor sozialer Ächtung und Schamgefühl nicht nach außen getragen. Wird eine unverheiratete Frau schwanger, haftet ihr ein Stigma an, das es ihr nahezu unmöglich macht, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Bis vor kurzem war es den Frauen sogar verwehrt, uneheliche Kinder registrieren zu lassen, sodass diese staatenlos und ohne Rechte aufgewachsen sind. Die Hintergründe der Schwangerschaft sind dabei unwichtig. Vergewaltiger haben kaum rechtliche Konsequenzen zu fürchten, da sich viele Frauen nicht trauen, die Tat überhaupt zur Anzeige zu bringen.

Das Frauenhaus des CDG bietet diesen Frauen einen sicheren Aufenthaltsort, Rechtsberatung, Gesund- heitsversorgung und Bildung – kostenlos und für jede Frau zugänglich. Die Atmosphäre im Haus ist unfassbar herzlich. Trotz ihrer oft traumatischen Erfahrungen strahlen die Frauen soviel Zuversicht und Lebensfreude aus. Es ist ein Ort des Mutes und der Hoffnung. Hoffnung auf Veränderung. Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich selbst und ihre Kinder. Es lässt keinen kalt, wenn die Frauen von ihrem persönlichen Schicksal erzählen, während sie ihr Kind liebevoll im Arm halten – das Leid, das viele von ihnen erfahren haben, ist für uns wohl kaum begreiflich und die Stärke, die sie ausstrahlen, zutiefst bewegend. Sie wirken wie eine große Familie und nennen Mohammed Zeghwal, den Leiter des Frauenhauses, liebevoll Papa Mohammed. Nicht wenige der Jungs sind nach ihm benannt – ein Zeichen der Dankbarkeit für die unermüdliche Arbeit des CDG, den Frauen eine Perspektive zu bieten. Eine Chance wieder Teil der Gesellschaft zu werden.

Lediglich der Polizist vor dem Eingang erinnert daran, dass die Frauen hier nicht ungefährlich leben. Noch am Morgen bevor wir kamen, hat ein Ehemann seine Frau auf der Straße vor dem Frauenhaus zusammengeschlagen, erzählt Mohammed Zeghwal. Solche Szenen kommen immer mal wieder vor. Für viele Frauen ist es wohl nach wie vor keine leichte Entscheidung, Hilfe zu suchen. Die Angst vor der Rage des Ehemanns, oder möglicherweise von der Familie verstoßen zu werden, ist nicht unbegründet. Doch es gibt auch immer wieder Männer und Väter, die sich dankbar zeigen für den Einsatz des Frauenhauses für ihre Ehefrauen und Töchter. Und die Arbeit des CDG zeigt deutliche Wirkung. Letztes Jahr gab es nur noch zwei Fälle in denen eine Mutter ihr Neugeborenes zurückgelassen hatte. Eine solche Tat ist keine Seltenheit in Marokko, wenn es sich um eine heimliche Niederkunft handelt, die vor Verwandten, Freunden und Nachbarn versteckt wer- den muss. Auch in Kelaa Sgharna hat es früher deutlich mehr solcher Fälle gegeben. Mohammed Zeghwal sieht sich auch für diese zwei Fälle in der Verantwortung, da er es nicht geschafft hat, diese zwei Frauen mit seiner Arbeit zu erreichen. Das Ziel muss sein, dass keine Frau sich scheut, die gebotene Hilfe des Frauenhauses in Anspruch zu nehmen. Dank der engen Zusammenarbeit mit dem Stadtrat und dem Bürgermeister hat der CDG inzwischen auch die Unterstützung der Stadt auf seiner Seite und gute Kontakte zur Justiz, sodass die Klagen der Frauen auch verfolgt werden, statt unter den Tisch zu fallen, und die Täter die Konsequenzen ihres Handelns tragen.

Die Reintegration der Frauen ist wohl die größte Herausforderung. Um den Frauen den Weg in die Selbstständigkeit zu erleichtern, gibt es Schreib- und Lesekurse, Nähkurse und weitere Angebote. Außerdem wird gerade an der Seite des Hauses ein kleines Café eingerichtet, in dem für die Studenten an der benachbarten Universität Kleinigkeiten zu Essen angeboten werden sollen. Die Hoffnung ist, dass die Frauen so ein wenig Kapital erwirtschaften können, um den Einstieg ins Berufsleben und in die Eigenständigkeit zu erleichtern.

Den Frauen Marokkos steht wohl noch ein steiniger Weg bevor. Vor allem auf dem Land, wo Traditionen und tief verwurzelte Denkweisen sich nur sehr langsam ändern. In den Städten sieht das Bild schon ganz anders aus und im Parlament werden Frauen über eine gesonderte Liste sechzig Sitze zugesprochen. Doch die Diskrepanz zwischen der erklärten Gleichberechtigung seitens der Regierung und gelebten Realität in der Bevölkerung ist eklatant.

Marokko ist ein Land der Vielfalt und der Gegensätze. Die vorpreschenden Städte, die sich am Westen orientieren, nach wirtschaftlicher Bedeutung und internationalem Ansehen streben, koexistieren neben kaum entwickelten Dörfern, wo die Bevölkerung oft noch immer von der Hand in den Mund lebt und Existenzwirtschaft betreibt. Der Wunsch nach besseren Lebensbedingungen und wirtschaftlichem Wohlstand treibt nicht wenige auf die andere Seite des Mittelmeeres nach Europa, während sich in Marokko selbst mehr und mehr Immigranten aus Westafrika niederlassen. Auf der einen Seite steht das Entwicklungsland Marokko, in dem die landesweite Analphabetismusrate bei über 48 Prozent liegt. Auf der anderen das fortschrittorientierte, moderne Marokko, das in prestigereiche HighTech-Projekte wie die Entwicklung eines Spionagesatelliten, der im November 2017 ins All gebracht wurde, die neue TGV-Strecke, die die Küstenmetropolen miteinander verbinden wird, oder das gigantische Solarenergiepro- jekt in der Nähe von Ouarzazte mit einer geplanten Gesamtleistung von 2.000 Megawatt investiert.

Mohammed VI. scheint sein Land in die Moderne führen zu wollen und es bleibt zu sehen, wohin sich Marokko in den kommenden Jahren bewegt. Der Demokratisierungsprozess hat begonnen, doch eine Demokratie braucht mündige Bürger. Die erste Generation, die unter der konstitutionellen Monarchie aufgewachsen ist, eine große Affinität für soziale Medien hat und sich vor allem in den Städten am westlichen Lebensstil orientiert, wird in den nächsten Jahren zunehmend an politischem Einfluss gewinnen und stellt zudem die wirtschaftliche Stütze des Landes dar. Die Zukunft und Entwicklung des Landes liegt nicht nur in den Händen des Königs, sie liegt auch – oder gerade – in denen der jungen Bevölkerung. 

 

freiraum #59