Eine unvollständige Antwort. Von Diana Michl

Schwerpunkt

 


Was wir hassen, lehnen wir rigoros ab. Es ist weit von uns weg, ob im Geiste oder tatsächlich. Oder es soll gefälligst weit weg sein – denn wer möchte schon dem nahe sein, was er ablehnt? Nur: Verhasstes berührt. Was uns nicht so wichtig, wirklich fremd ist oder wahrhaftig fern liegt, produziert keine starke Emotion wie Hass oder Wut. Nein, Hass richtet sich auf Dinge und Menschen, die einem irgendwie nahe sind – oder gar ähnlich, oft mehr als man ahnt. Was also ist es, das wir hassen? Eine psychologische Antwort: Unser Schatten, also ein Teil unserer selbst; die Teile der Persönlichkeit, die wir nicht haben wollen, die nicht gefördert wurden, nicht erwünscht und deshalb verdrängt oder abgespalten sind, aber unterdrückt und unkultiviert in uns weiterexistieren. Manchmal die Kehrseite unserer offensichtlichen Charaktereigenschaften, sind sie auch stille Wünsche, Bedürfnisse, Impulse, nichtgelebte Vorstellungen und Werte. Je mehr wir einen Aspekt unserer Persönlichkeit stärken und hervorkehren, je gewaltiger die Persönlichkeit in eine bestimmte Richtung gedrückt wird, desto länger wird ihr Schatten. Da dieser nur im Unbewussten existiert, kann er eine enorme Macht entwickeln und beeinflusst unsere Gefühle und Handlungen unkontrolliert. Was an uns nicht sein darf, hassen wir an anderen. Dafür müssen Dinge und Menschen unseren Schatten nicht verkörpern, oft reicht es, wenn sie uns lediglich an ihn erinnern. Dann werden sie zu Projektionsflächen und wir stülpen ihnen unsere unbewussten, unerwünschten Anteile über, ohne es zu erkennen. Dadurch können Ablehnung, Hass, Wut nach außen getragen statt aufs Innere gerichtet werden, was einfacher und angenehmer ist und das Selbstbild nicht ins Wanken bringt. Hass auf Homosexuelle oder Andersdenkende sind plakative Beispiele: Wer sie hasst, in dem sprechen sie seinen Schatten an. Man hasst also in Wahrheit etwas anderes, als man glaubt. So kommen Hass und wütende, rasende Ablehnung wie ein Bumerang zu einem selbst zurück.

Das wahre Hassobjekt zu enttarnen, ist aber wie eine Schnitzeljagd durch die Seele, manchmal langwierig und knifflig; es braucht einen unverstellten Blick, ehrliche, kritische Auseinandersetzung mit sich selbst. Stellvertreterhass zu pflegen ist dagegen einfach, praktisch und verbindet mit Gleichgesinnten. Er benötigt kein Hinterfragen, keine mühevolle Selbsterkenntnis, keine Fakten und ist ein dankbares Ventil für Emotionen. Hass und Wut, aber auch Angst, sind mächtig – manchmal brauchen sie einfach Platz. Und ein Objekt, das sich als Projektionsfläche eignet. Zu viel möchte man über das Objekt gar nicht wissen, denn es muss noch mit den eigenen Vorstellungen besetzt, adäquat gehasst und auch gefürchtet werden können. Doch wer möchte schon gerade Angst empfinden? Unbestimmte Angst oder konkrete, wie zum Beispiel vor einer unsicheren Zukunft? Vor Isolation oder Armut jeder Art? Vor Politik, die an einem vorbeigeht oder davor, sich in der eigenen Heimat fremd und falsch zu fühlen? Kurz: Angst vor dem Unbekannten? Angst ist beklemmend; sie in Wut oder Hass umzumünzen, macht stark, und Wut lässt sich leichter ausleben. Fremdenhass und Feindbilder gehen wohl sehr selten auf eine eigene schlechte Erfahrung mit einem Fremden zurück, sondern meist auf Urängste oder andere, persönlichere individuelle Ängste. Fremder und Feind sind dann nur Projektionsfläche, ihre empfundene Bedrohlichkeit bleibt abstrakt. Aber Wut, Hass und klare Feindbilder geben natürlich trotzdem Halt und Orientierung in einer komplexen, immer komplizierteren und schnelleren Welt. Kann es auch eine Welt ohne sie geben?

Hass als Orientierung für Gut und Schlecht, Richtig und Falsch: Sicher, es gibt ja viele andere Haltspender. Hass und Wut als getarnte Angst: Theoretisch ja. Angst könnte auch in eine andere Art kraftvoller, energiegeladener Aggression umgewandelt werden, in produktive, zupackende Neugier, die sich der vermeintlichen Gefahr unerschrocken stellt und sie hinter- und befragt. Aufgeschlossenen Menschen ist dies möglich. Aber kann es eine Welt ohne Hass als Ablehnung des eigenen Schattens geben? Das scheint schon theoretisch unmöglich. Dazu müsste jeder, der Hass empfindet, seine eigene Psyche analysieren. Notwendig wären eine ungefilterte, ungeschönte Selbstwahrnehmung, gnadenlos aufrichtige und neutrale Innenschau, kritische Auseinandersetzung mit passenden, kompetenten Gesprächspartnern, mit dem »feindlichen« Objekt, Widerstand gegenüber den gewohnten einfachen Antworten und gegenüber Menschen mit gleichen Schattenanteilen. Die Probleme beginnen damit, dass niemand sich selbst neutral und ungefiltert analysieren kann, und sich (efolgreich) therapieren lassen kann und will auch nicht jeder Betroffene. Von vornherein keinen Schatten zu entwickeln ist ebenfalls unrealistisch, zumal sich dieser ja schon sehr früh durch Erziehung und Sozialisation zu formen beginnt und vom Individuum, wenn überhaupt, erst spät zu steuern ist.

Vermutlich gehört Hass zum Menschsein dazu. Doch wenn er gefährlich wird, wie soll dann der eigene Umgang damit sein? Frieden mit dem Hassobjekt schließen? Nicht so einfach, außerdem muss es dazu richtig erkannt werden. Die Wut im Hass abreagieren? Dazu wäre es hilfreich, wenn Wut an sich in der Gesellschaft mehr Raum und Legitimität bekäme, harmlos ausgelebt zu werden und sich nicht anzustauen. Das wäre zumindest ein erster kleiner Schritt. Wie wäre es zum Beispiel mit weichen Gummipolstern an öffentlichen Orten, die man mal kurz schlagen, treten oder drücken darf? Kleine, gesunde Blitzableiter für spontane Wut, egal worauf. Tut niemandem weh, hinterher fühlt man sich gelöster und niemand muss zum Unfallchirurgen. Davon hätte die Autorin dieses Artikels selbst schon profitiert. Natürlich geht das echtem Hass nicht auf den Grund, korrigiert und heilt ihn nicht, und es erfordert den Willen, sich unschädlich an einem vorgesehenen Gegenstand abzureagieren anstatt beispielsweise an einer (vermeintlich verhassten) Person oder im Internet. Auch wenn das nicht alle erreicht, denen es hälfe: Als kleine Unterstützung im Alltag könnte es doch manchem Zorn die Spitze nehmen...

freiraum #60