Die Judoka Kassandra Walluks im Interview mit Tobias Schwessinger

Interview

 


freiraum: Kassandra, du bist seit mehr als 25 Jahren im Judo aktiv, trainierst den Nachwuchs und stehst selbst in der Bundesliga auf der Matte. Als Sambo-Kämpferin bist du international unterwegs. Wenn du auf den teils offen ausgesprochenen Hass auf den Straßen, aber auch in den Medien und sozialen Netzwerken schaust, auf die Gewalt und Aggressivität, die unser gesellschaftliches Miteinander immer mehr bestimmen, fühlst du dich da als professionelle Kämpferin nicht ein wenig zu Hause?

Kassandra Walluks: Natürlich geht es im Kampfsport um die gegenseitige Auseinandersetzung, um die Konfrontation zweier Gegner. Aber es ist auch eine von bestimmten Formen und Regeln getragene Auseinandersetzung. Gerade im Judo und auch im Sambo, den beiden Kampfsportarten, in denen ich aktiv bin, geht es eben nicht darum, seinen Gegenüber einfach »auszuschalten«, sondern sich nach bestimmten Regeln mit ihm zu messen. Für mich hat Kampfsport deswegen nichts mit Hass, Aggressivität und Gewalt zu tun.

Also bist du im Kampfsport noch nie Hass begegnet?

Sicher bleibt sowas nicht aus. Aber das, was ich erlebe, ist, dass man durch den Kampfsport eher aufeinander zugeht. Von Jigoro Kano, dem Begründer des Judo, gibt es ein Sprichwort, in dem er sinngemäß sagt: Die Judoka stehen sich im Wettkampf als Rivalen gegenüber, aber im Training, auf der Matte und im Alltag begegnen sie sich als Freunde. Das ist das, was ich im Training und im Wettkampf erlebe.

Gibt es denn Unterschiede innerhalb des Kampfsports, auch hinsichtlich der Art, wie man miteinander umgeht?

Ja, die gibt es auf jeden Fall, auch wenn das in der öffentlichen Darstellung des Kampfsports oft untergeht. Judo und Sambo sind beispielsweise Nahkampfsportarten, bei denen man den Gegner anfasst, wirft, oder am Boden festhält.

Das steht im Gegensatz zu den Fernkampfsportarten, wie Karate oder Boxen, wo man vor allem Tritte und Schläge ausübt. Das gibt es im Judo und im Sport-Sambo gar nicht und mir persönlich gefällt das sehr gut. Es geht eben nicht darum, wie etwa beim Boxen, seinen Gegner körperlich durch Verletzungen auszuschalten.

Durch das von den Medien meist über das Boxen oder auch das Mixed Martial Arts (MMA) vermittelte Bild vom Kampfsport bringen die Menschen oft Gewalt, Hass und Aggressivität mit dem Kampfsport in Verbindung.

Also wird deiner Meinung nach in der Öffentlichkeit ein falsches oder zumindest einseitiges Bild vom Kampfsport vermittelt? Eines, das vor allem auf Gewalt, Aggressivität und auch Hass abzielt und anderen Formen des Kampfsports, wie etwa Judo, genau deswegen kaum Beachtung schenkt?

Was der Außenstehende besser vom Kampf wahrnimmt, ist leider die Aggressivität und die Gewalt, etwa wenn man jemanden schlägt oder boxt und er dann zu Boden geht. Das wird, glaube ich, auch mehr gefragt und wird lieber gesehen. Da gibt es Action. Ich persönlich mag das am Kampfsport nicht und fühle mich im Judo und Sambo deutlich besser aufgehoben.

Aber dennoch geht es doch auch im Judo um einen Kampf, der darauf abzielt, seinen Gegner zu besiegen, oder nicht?

Doch, natürlich. Aber es geht nicht darum, seinen Gegner auszuschalten, sondern vielmehr seinen Gegner – und auch sich selbst – kennenzulernen. Auch trainieren kann man Judo nicht alleine. Im Fernkampfsport kann man auch vieles alleine üben, in den meisten anderen Sportarten sowieso. Im Judo brauchst du immer deinen Partner, brauchst immer jemanden, mit dem du gemeinsam trainieren kannst.

Das bedeutet, dein Trainingspartner muss dir wichtig sein. Das ist ein sehr wichtiges Miteinander, bei dem man sich gegenseitig braucht, um weiterzukommen. Man muss das Ziel gemeinsam erreichen – obwohl es offiziell ein Einzelkampfsport ist.

Wie begegnen dir eigentlich Menschen im Alltag, wenn du ihnen erzählst, dass du Kampfsportlerin bist?

Das ist sehr unterschiedlich. Aber oft kommen Fragen, ob man jetzt gleich jemanden umhauen würde, wenn er einem doof komme oder Ähnliches. Oft spüre ich auch etwas Angst und Distanz. Leider gibt es viele negative Reaktionen, gegen die ich oft anarbeiten muss.

Das Bild, das vom Kampfsport vermittelt wird, ist ein durch Gewalt und Aggressivität geprägtes. Eigenschaften, die kulturell und sozial eher als männlich und nicht als weiblich verstanden werden. Wenn du anderen erzählst, dass du Kampfsport machst, macht es da vielleicht nochmal einen Unterschied, dass du eine Frau bist?

Definitiv. Als Mann ist es mehr angesehen, Kampfsport zu machen, es verbessert dein Image. Als Frau wird man eher in eine Ecke gestellt, reduziert. Manchmal wird man überhaupt nicht mehr als Frau wahrgenommen, weil, das passt für viele nicht zusammen – eine Frau zu sein und Kampfsport zu machen.

Dabei sind Hass, Gewalt und Aggression ja genau die Werte, die mit der Form des Kampfsports, den du betreibst und hier vorstellst, nichts zu tun haben. Eher im Gegenteil. Von welchen Werten wird Judo denn geprägt?

Es gibt zehn zentrale Werte im Judo, die mir nicht nur als Kampfsportlerin, sondern auch privat im Alltag sehr wichtig sind. Vor allem ist es mir wichtig, diese Werte im Training weiterzugeben. Einer dieser Werte ist zum Beispiel Respekt vor deinem Gegenüber. Aber auch Mut, sich Herausforderungen zu stellen. Genauso wie Hilfsbereitschaft, anderen unter die Arme zu greifen. Ehrlichkeit ist für mich persönlich auch sehr wichtig – nicht nur den anderen, sondern vor allem auch sich selbst gegenüber. Die eigenen Stärken, aber auch Schwächen zu akzeptieren.

Wie wohl jeder von uns, gerätst auch du gelegentlich in Situationen, die durch Konfrontation, Aggression und verbaler oder manchmal auch körperlicher Gewalt geprägt sind. Gehst du mit diesen Konflikten anders um, weil du Kampfsportlerin und vor allem Judoka bist?

Da ich im Studium als Türsteherin gearbeitet habe, war ich durchaus in Konfrontationen involviert und bin natürlich häufiger als viele andere mit Aggression und Hass und Gewalt in Berührung gekommen. Dabei versuche ich aber immer, zuerst mit Worten zu schlichten und zu deeskalieren. Judo ist keine Angriffssportart. Erst wenn mich jemand körperlich angreift, reagiere ich, um mich zu verteidigen. Da gibt mir der Kampfsport natürlich viel Selbstvertrauen. Aber man muss natürlich auch in Konfrontationen den nötigen Respekt haben und darf nie unvorsichtig werden.

Ein Blick zurück auf die Art und Weise, wie derzeit in der Öffentlichkeit mit anderen Meinungen umgegangen wird. Wo dem Gegenüber, ob nun einer Privatperson, einer politischen oder auch kulturellen Gruppe immer öfter mit Hass, Aggressivität und verbaler und leider auch immer wieder körperlicher Gewalt begegnet wird. Was würdest du dir als Kampfsportlerin für unser Miteinander wünschen?

Ich finde es vor allem traurig zu sehen, wie Hass im gesellschaftlichen Mit- und auch Gegeneinander immer mehr Raum einnimmt. Als Trainerin versuche ich genau dagegen anzukämpfen, wenn ich die Kindern nicht nur das Kämpfen auf der Matte lehre, sondern ihnen auch Werte vermitteln möchte, die sie mit nach draußen nehmen und dort, in ihrem Alltag, leben. Dabei freue ich mich immer, wenn ich ganz unterschiedliche Menschen im Training miteinander verbinden kann, auch welche, die sich hier fremd fühlen, weil sie erst seit kurzem in Deutschland oder Europa sind. Im Zentrum stehen dabei die Judowerte: Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Respekt, Bescheidenheit, Wertschätzung, Mut, Selbstbeherrschung und vor allem – Freundschaft, die über allem steht.

Freundschaft auch zwischen den Gegnern. Manchmal sind die Kinder und Jugendlichen selbst das Ziel von Aggressivität und leider auch Gewalt, mit der sie lernen, im Training umzugehen. Im Kampfsport schafft man es im doppelten Sinne, Berührungsängste abzubauen. Zum einen ist man körperlich nah an seinem Gegenüber, aber auch im geistigen Miteinander wachsen die Menschen im Training und auch im Wettkampf oft zusammen.

Kampfsport und vor allem Judo ist also eine Form des geregelten Kampfes, in dem man seinem Gegenüber mit Respekt und Wertschätzung begegnet. Würdest du dir das auch manchmal für unser gesellschaftliches Miteinander heute wünschen? Eine Form der Konfrontation und des Konflikts, die von Regeln getragen wird, die Hass und Aggressivität ausgrenzen?

Ja, wenn zwei Gegner sich vor dem Kampf verbeugen, sich im Kampf respektieren und wertschätzen und nach dem Kampf die Hand geben und manchmal sogar Freunde werden – das ist schön zu sehen, und es ist auch schön, das selbst leben zu können. Genau das wünsche ich mir auch aus dem Judo heraus für unseren Alltag und die Art und Weise, wie wir alle miteinander umgehen – und ich glaube daran, dass das gelingen kann.

 

 Zur Person

Kassandra Walluks (*1987) ist seit über 25 Jahren im Kampfsport aktiv. Sie kämpft als Judoka in der Bundesliga und als Samboka auf internationalen Wettkämpfen, war mehrfach Deutsche Meisterin (2014 – 2018) und belegte zuletzt den zehnten Platz der Weltrangliste in ihrer Gewichtsklasse. Auf dem European Cup in Riga belegte sie den dritten Platz. Dabei übt sie
den Sport eigentlich nur »nebenbei« aus. Hauptberuflich promoviert Kassandra Walluks in der Biochemie. Der Sport beansprucht nicht nur viel Zeit für das regelmäßige Training und natürlich die Wettkämpfe, sondern kostet aufgrund der Reisen ins Ausland auch viel Geld. Hierfür sucht Kassandra Walluks Sponsoren, welche sie unterstützen – nicht zuletzt, um vielleicht auch ein anderes Bild des Kampfsports zu fördern, der Werte vermittelt, die vor allem auch für unser gesellschaftliches Miteinander wichtig sind.

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