Die Psychologie und Biologie der Risikobereitschaft. Egal, ob es sich um finanzielles Planen, Dating oder Extremsport handelt – es gibt einfach Menschen, die bereitwillig mehr Risiko auf sich nehmen. Gibt es dafür eine Erklärung? Von Yasmin Youssef

Schwerpunkt

 


Risiko und Risikobereitschaft – Was ist das?

Ein Risiko ist die Unsicherheit einer negativen oder positiven Konsequenz – das Outcome ist nicht kontrollierbar. Ein Risiko unterscheidet sich zu einer Unsicherheit in der Hinsicht, dass letztere subjektiv ist, während ersteres objektiv ist. Risikobereitschaft ist die Bereitschaft eines Individuums, ein Risiko zu akzeptieren und einzugehen. Risikobereitschaft bedeutet aber keineswegs immer etwas Dramatisches oder Impulsives oder Unbedachtes und sollte daher nicht mit Leichtsinnigkeit gleichgesetzt werden. Ein Risiko eingehen kann genauso bedeuten, eine Situationbedacht anzugehen, die Vor-und Nachteile gegeneinander abzuwägen und trotz potenziell negativer Auswirkungen den Schritt zu wagen. Die Risikobereitschaft hängt zum großen Teil von der Wahrnehmung eines Individuums ab. Die Risikowahrnehmung ist ein Urteilsprozess eines Individuums, in dem es entscheidet, ob eine bestimmte Situation als Risiko klassifiziert wird oder nicht. Dieser Urteilsprozess unterliegt verschiedenen Bewertungen und kognitiven Verzerrungen (Biases).

Die Biologie der Risikobereitschaft

Aber warum suchen wir den Nervenkitzel und das Neue? Dahinter steckt zunächst einmal das Dopamin-System des Gehirns. Dopaminerge Neurone befinden sich im Mittelhirn und ziehen von dort zu anderen Hirnregionen, wo Dopamin ausgeschüttet wird (z. B. in Regionen, die für die Motorik verantwortlich sind). Dopamin wird jedoch auch oft als das »Glückshormon« des Menschen bezeichnet. Es wird mit Psychosen und Suchtverhalten in Verbindung gesetzt, da Dopamin unter anderem das menschliche Belohnungssystem aktiviert. Dopamin wird besonders bei freudvollen Tätigkeiten wie Essen und Sex ausgeschüttet - es verursacht Gefühle von Zufriedenheit, Befriedigung, Aufregung und Rauschzustand. Menschen, die dazu neigen, öfter Risiko auf sich zu nehmen, besitzen im Gehirn einen erhöhten Dopamin-Spiegel. Es wurde auch experimentell gezeigt, dass Patienten unter dem Dopamin steigernden Medikament Levodopa im Vergleich zu einer Kontrollgruppe unter einem Placebo-Medikament mehr Risikobereitschaft in Glücksspielen zeigten.

»DOPAMIN wird besonders bei freudvollen Tätigkeiten wie ESSEN und SEX ausgeschüttet.«

Weiterhin kann Risikobereitschaft durch Umstruk- turierungen im Gehirn erklärt werden. Im Jugendalter gibt es strukturelle und funktionelle Imbalancen zwischen den limbischen Regionen (Regionen, die für Emotionen und Belohnung verantwortlich sind) und dem kognitiven Kontroll-Zentrum. Das limbische System entwickelt sich schneller als das kognitive Kontroll-Zentrum. Letzteres befindet sich im präfrontalen Kortex und steuert die höchsten kognitiven Funktionen. Es ist damit am Denken, am Planen, am Entscheiden und an der zielorientierten Verhaltens- und Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt. Der präfrontale Kortex ist erst um das dreißigste Lebensjahr voll entwickelt.

Das Gehirn ist ein hoch plastisches Organ, das sich sehr schnell an neue Bedingungen und Umstände gewöhnt. Ein Beispiel: in der motorischen Rinde des Gehirns, die Bewegungsabläufe initiiert, sind bestimmte Muskelgruppen in einem »Homunkulus« repräsentiert. Dabei nehmen das Gesicht und die obere Extremität eine proportional größere Fläche ein als z.B. der Brust- und Bauchbereich. Das kann dadurch erklärt werden, dass wir mit dem Gesicht und den Händen viel mehr und feinere Bewegungen ausführen können. Es konnte nun in Tierexperimenten gezeigt werden, dass diese »Landkarten«, die für die verschiedenen Körperregionen kodieren, dynamisch sind. So konnte beobachtet werden, dass sich bei einer Fingeramputation bei Affen die Bereiche der Nachbarfinger repräsentativ vergrößern und so die fehlende Funktion des anderen Fingers kompensieren.

Die Entwicklung des Zentralen Nervensystems beginnt in der 3. Schwangerschaftswoche und ist zur Hälfte der Schwangerschaft in den Grundzügen fast fertig angelegt. Bis zur Geburt teilen sich die Nervenzellen und erreichen bis dahin eine Anzahl von ca. 100 Millionen. Nach der Geburt werden also keine neuen Nervenzellen gebildet (Ausnahmen sind Bereiche im Hippocampus und Bulbus olfactorius). Das Gehirn besitzt zum Zeitpunkt der Geburt aber im Durchschnitt nur ein Viertel des Gewichts eines adulten Hirns. Wie kann also die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns erklärt werden? Die postnatale Entwicklung des Gehirns ist hauptsächlich durch die zunehmende Vernetzung zwischen den Nervenzellen und die Verdickung der Nervenzellfortsätze (Axone) gekennzeichnet. Die Verdickung der Ner- venfortsätze wird durch die Myelinisierung erreicht. Bei der Myelinisierung werden Nervenfortsätze mit Phospholipidschichten von Membranen ummantelt. Diese Ummantelung ermöglicht es, Reize schneller weiterzuleiten. Das ist sehr wichtig, da es ermöglicht, schneller Informationen aufzunehmen und auf Reize zu reagieren. Die Myelinisierung läuft in verschiedenen Gehirnbereichen zu verschiedenen Zeitpunkten ab. Man spricht daher auch oft von einer Myelinisierungswelle. Die Welle fängt im Hirnstamm an und breitet sich über das Zwischenhirn und Mittelhirn zur Großhirnrinde aus. Sie ist ungefähr im 2. Lebensjahr beendet. Bei diesem Prozess verändert sich die Proportion von weißer (myelinisierte Nervenfasern) und grauer (Zellkörper) Substanz im Gehirn.

Weiterhin bilden Nervenzellen mit der Zeit vermehrt Synapsen (Verbindungen) mit anderen Nervenzellen. So werden verschiedene Gehirnsysteme miteinander verbunden. Die Hirnleistung hängt weniger von der Zellmenge als von der Vernetzung zwischen den Zellen ab. Diese Vernetzung dient der kontrollierten und geplanten Koordination von Affekten und Kognition. Besonders die Synapsenbildung in präfrontalen Bereichen stärken und fördern Reaktionsinhibierung, Vorausplanen, simultane Bearbeitung von verschiedenen Informationsquellen etc. Das sind Prozesse, die gleichzeitig zu einer verminderten Risikobereitschaft führen.

Die abnehmende Sensationsgier mit zunehmendem Alter und die Einschätzung von Konsequenzen kann also durch Veränderungen im zentralen Nervensystem erklärt werden. Sowohl die Myelinisierung wie auch die Synapsenbildung ermöglichen es, Reize und Informationen schneller zwischen Gehirnsystemen zu übertragen und so kontrollierter und »überlegter« darauf zu reagieren.

Psychologie der Risikobereitschaft

Doch Risikobereitschaft kann nicht vollständig morphologisch erklärt werden. Risikobereitschaft zeigt ähnliche psychometrische Muster wie psychologische Persönlichkeitsmerkmale oder Intelligenz. Für ein Individuum kann ein allgemeiner Faktor formuliert werden, der stabil bleibt. Die Risikobereitschaft verändert sich jedoch zu verschiedenen Lebenszeiten und in verschiedenen Lebensbereichen. Dieser Umstand wird als adaptive Rationalität bezeichnet. Die Gehirnorganisation und Entwicklung wird auch durch externe Faktoren wie sozioökonomischen Status, Religion, Kultur und Lebensereignisse geprägt. Die menschliche Entwicklung steht im Zusammenspiel mit der Umwelt und wird an die lokalen Lebensbedingungen und Erfordernisse angepasst. Es muss an dieser Stelle jedoch noch einmal klar betont werden, dass es sich bei den folgenden Aussagen hauptsächlich um beobachtete Zusammenhänge und Korrelationen handelt, aus denen sich noch keine Kausalität ableiten lässt. Weitere Studien und Experimente (sowohl am Tier als auch am Menschen) werden nötig sein, um diese Aspekte klarzustellen und auch um zu erarbeiten, warum Individuen in verschiedenen Situationen unterschiedlich handeln.

Unterschiede in der Risikobereitschaft zwischen den Geschlechtern

Studien scheinen zu zeigen, dass Jungen und Männer meist risikofreudiger sind als Mädchen und Frauen. Diese intergeschlechtlichen Unterschiede scheinen jedoch eher durch externe Umstände und das Umfeld geprägt zu werden und nicht auf biologische und anatomische Unterschiede zurückzuführen zu sein. Dieses Argument wird dadurch bestärkt, dass sich die Unterschiede zwischen dem Risikoverhalten von Männern und Frauen in Entwicklungsländern in den letzten Jahren verschmälert haben.

Die Funktion von Risiko

Die evolutionäre Funktion der erhöhten Risikobereitschaft in der Jugend besteht wahrscheinlich darin, den Übergang in die Eigenständigkeit und Selbständigkeit zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern. Jugendliche akzeptieren eher Unsicherheit und Ambiguität und tolerieren das Ungewisse. Höhepunkt dieses Verhaltens ist zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr.

Weiterhin gilt Risikobereitschaft evolutionär als Maß für einen potenziellen Partner und trägt so zur sexuellen Auslese bei. In gewisser Hinsicht trifft dies auch noch heute zu. Skeptisch? Sowohl literarisch als auch filmisch werden permanent Anspielungen gemacht, dass »bad boys«, die dominant, aggressiv und risikobereit sind, auch sexuell ansprechbar sind.

 

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